Lautsprecherin

Not an der Schlafstelle

Gerade als ich dachte, er hätte sich gefangen, prallt sein Gesicht wieder auf meine Schulter. Es ist schwer und nass und mir völlig unbekannt. Es ist halb vier Uhr morgens. Eigentlich wollte ich mir am Heimweg bloß einen Snack im Automatenshop holen … als Katerprophylaxe und weil Kinder einfach die geilste Schoko macht … Das Gesicht auf meiner Schulter vibriert. „Kannst du dir das vorstellen? Ein Kabelbrand und auf einmal hat man nichts mehr … “ Der Mann, dem das Gesicht gehört, stemmt sich hoch. Er dürfte nicht viel älter sein als ich. Im Halbdunkel schwer zu sagen. „Es tut mir so leid, dass ich weine“, sagt er, während sich sein Gesicht wieder leicht meiner Schulter nähert.

M. hat vorgestern seine Wohnung verloren. Da er nicht in Österreich geboren ist, hat er kein Netzwerk an Menschen, das ihn auffangen könnte. Inzwischen ist auch das wenige Bargeld, das er zum Zeitpunkt des Brands bei sich hatte, aufgebraucht. M. nimmt einen Schluck aus der Dose, die ich ihm aus dem Automatenshop mitgebracht habe. Auf den Kinderriegel hab‘ ich ganz vergessen, merke ich und sehne mich nach meinem Bett, halb beschämt. M. hat ja keines mehr. „Ich hab schon überall angerufen“, erzählt er. „Arche hat nein gesagt, weil ich keinen Job habe und Vinzi hat auch nein gesagt.“ Ich glaube M. aber ich kann ES nicht glauben. 

Warum heißt es bitte Notschlafstelle?

„Arche38, hallo?“, meldet sich eine verschlafene Stimme. Und tatsächlich bestätigt sich: Job brauche man zwar keinen, um in der Notschlafstelle der Caritas unterkommen zu können, wohl aber einen Nachweis, der zeigt, dass man im österreichischen System verankert ist. Es ist kurz vor vier. M. starrt zwei Meter weiter auf den Asphalt und wartet auf bessere Aussichten.

„VinziNest, hallo?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist ebenfalls gezeichnet von der Uhrzeit. Ich schieb‘ mein schlechtes Gewissen beiseite und hoffe, dass sich das Aufwecken gelohnt hat. „Ja, er kann gerne vorbeikommen“, höre ich den Vinzimitarbeiter sagen. Erleichterung. Etwa zwei Sekunden lang. „Ab morgen Mittag halt und nur mit gültigem PCR-Test.“ Ein paar Tage davor war die FFP2-Maskenpflicht bundesweit aufgehoben worden. Bald sollte das Pandemie-Ende erklärt werden. Und M. braucht einen PCR-Test, um nicht unter einem Bimhaltestellendach pennen zu müssen.  

 

„In Österreich muss niemand auf der Straße schlafen.“ 

Oder: „Früher war alles besser.“ Das sind so Sätze, die fühlen sich intuitiv richtig an, aber mehr auch nicht. Noch bevor ich vom zweiten Telefonat erzählen kann, liegt M.s Gesicht bereits wieder in meiner Jacke vergraben. Schwer und nass, doch ein bisschen vertrauter.

I know, die Mitarbeiter:innen der Notschlafstellen handeln bloß entsprechend ihren Vorgaben. Und ein wenig Mitgefühl hatten sie auch. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen. Und so bleibt wieder einmal nur Grant auf das System – das zu wenig Ressourcen bereitstellt, Sozialkürzungen vorantreibt, Bürokratie über Niederschwelligkeit und Lebensnähe stellt …

Und dann ist da noch der Grant auf mich selbst. Auf den ist immer Verlass ;). „Warum biete ICH ihm keinen Schlafplatz an?“, schießt es mir durch den Kopf, als ich bei aufkeimendem Morgenlicht ein paar Meter weiter meine Wohnungstüre aufsperre. „Naja, ich kann doch nicht einfach einen fremden Mann nachts mit nachhause neh … “, breche ich den Gedanken ab, weil ich weiß, dass mich das in anderen Kontexten bisher nur mäßig gestört hat. 

Fair enough. Ich werd‘ an meinen Vorbehalten gegenüber obdachlosen Menschen arbeiten. Aber bitte, liebe Notschlafstellen, arbeitet auch an eurem Aufnahmeprozedere! 24/7. Die weißen Buchstaben über dem Automatenshop leuchten mir, quer über die Straße, bis in mein Zimmer entgegen. M. habe ich seit jener Nacht im Mai nicht mehr gesehen. 24/7. Der Automatenshop hält, was Notschlafstellen nicht versprechen können.