ILLUSTRATIONEN: LENA GEIREGGER
TEXT: JULIA REITER

Obdachlosigkeit eine Geschichte geben

Wie landen Menschen auf der Straße? Vier Sozialmanagement-Schüler_innen aus Wien, gingen dieser Frage für uns auf den Grund. Das Ergebnis: Zwei berührende Porträts von Menschen, die im Leben weniger Glück hatten und viel verloren.

Karl-Heinz: „Ich bekenne, ich habe gelebt“

„Ich bin gebürtiger Norweger. Meine ersten drei Lebensjahre habe ich dort verbracht. Mein Vater war Norweger, ist dann nach Österreich gekommen und hat dort meine Mutter geheiratet. Meine Kindheit war wunderschön. Ich hatte wundervolle Eltern und acht Geschwister. Ein Gasthaus hatten wir auch. Mit 20 habe ich meine Frau kennengelernt. Wir bekamen zwei Töchter. Die eine arbeitet bei der Polizei. Die andere ist leider Gottes drogensüchtig. Ich bin schwer dahinter, da mal reinen Tisch zu machen und sie in ärztliche Behandlung zu schicken. Meine beiden Töchter sind mir sehr wichtig. Meine zwei Wauzis – American Stafford – auch. Und meine Harley Davidson natürlich.

Im Gasthaus meiner Eltern habe ich Metzger und Koch gelernt. Aber ich muss sagen, ich habe mein ganzes Leben lang auf der kriminellen Seite verbracht. Vor ca. 15 bis 16 Jahren hat mir das ganze Colosseum (Laufhaus) gehört. Ich hab von meinen Mädels gelebt und von Schutzgelderpressungen. Ich war Mitglied einer kriminellen Organisation, den Hells Angels. Ich war ein schlimmer Typ. Ich war ein böser Typ. Ich steh dazu. 13 Jahre lang saß ich deswegen in der Justizanstalt Karlau.

Als ich vor drei Jahren rauskam, ist meine Frau verstorben. Also hab ich zum Bechern angefangen und bin auf der Straße gelandet. Zwischendurch habe ich versucht zu arbeiten, bin aber gleich wieder in die kriminelle Schiene gerutscht. „Nein, game over!“, hab ich mir dann gesagt und bin stattdessen auf den Plabutsch gegangen. Dort hab‘ ich drei Monate lang in meinem Zelt geschlafen. Bis voriges Jahr im Mai ein riesiges Unwetter kam. Das hat mein Zelt mitgenommen. Dann musste ich ins VinziTel.

Viele meiner Nächte verbringe ich in Parks, Tiefgaragen und Ruinen. Wie viel ich dort schlafen kann, hängt davon ab, ob und wann die Polizei kommt. Oft muss ich die Fliege machen. Das Schlimmste, was mir einmal auf der Straße passiert ist, war der Bauchschuss, den ich abbekommen habe. Aber das war eigentlich nicht beabsichtigt. Eine Polizistin hat ihre Pistole fallen lassen und der Schuss hat sich gelöst und mich direkt am Bauch getroffen.

Seit eineinhalb Jahren bin ich nun schon obdachlos. Müsste ich Obdachlosigkeit mit drei Worten beschreiben, wären diese: scheiße, scheiße, scheiße. Du hast nichts zum Essen, du hast nichts zum Schlafen und du frierst, wenn’s draußen kalt ist. Am schlimmsten ist der Winter. Schlafplätze sind begrenzt und du brauchst jeden Tag ein warmes Essen. Man braucht schon gute Fäuste. Wenn man in einer Tiefgarage oder so schläft, passiert es manchmal, dass dich jemand ausrauben möchte oder so. Da kann man immer nur mit einem geschlossenen Auge schlafen. Angst hab‘ ich trotzdem kaum – höchstens vor einer konkurrierenden Rockergruppe der Hells Angels. Die schießen gern auf uns.

Das Leben auf der Straße ist hart, manchmal aber auch leiwand. Obdachlose halten zamm. Es gibt nix Besseres, als wenn jemand einen Euro hat und den mit den anderen teilt. Regeln und Reviere gibt’s bei uns nicht. Der größte Feind ist die Polizei. Und die Gesellschaft. Du hast eh schon weniger als nix und dann grüßt dich nicht einmal wer! Es begegnen dir so viele Personen mit Ignoranz, teilweise sogar Pfarrer. Wenn du arbeits- oder obdachlos bist, bist du die letzte Scheiße auf Gottes Erde. Ich wünsch‘ mir Respekt. Ich wünschte, die Leute würden mir die Hand geben und sagen „Geh ma‘ ganz g‘miadlich auf an Kaffee“ oder so. Wenn sie an einem Obdachlosen vorbeigehen, würdigen sie dich nicht mal eines Blickes. Sie sind voller Vorurteile. Sie denken, dass du nicht arbeiten willst, dass du ein Sozialschmarotzer bist. Ich wollte immer arbeiten, aber mir stehen mein Lebenslauf und mein Alter im Weg. Keiner gibt einem 62-jährigen Ex-Häftling Arbeit. Über die Jahre hat sich meine Persönlichkeit ein bissl gewandelt. Ich war früher hochgradig kriminell und hoch-gradig aggressiv. Jetzt bin ich eher ruhig und standhaft. Von der Straße komm‘ ich trotzdem nicht weg. Da steht mir meine Vergangenheit im Weg. Ehrlich gesagt, kenne ich auch sonst niemanden, der es aus der Obdachlosigkeit rausgeschafft hat.

Das Wichtigste im Leben ist für mich, ein Dach überm Kopf und etwas zum Essen zu haben. Früher hab‘ ich das alles gehabt. Während meiner Haftzeit habe ich alles verloren. Vor kurzem hatte ich einen Herzinfarkt und hab‘ jetzt einen Bypass drinnen. Wahrscheinlich habe ich noch sechs bis acht Monate zu leben, aber das ist für mich kein Problem. Ein jeder muss irgendwann mal den Löffel abgeben. Wenn ich noch einen letzten Wunsch frei hätte, würd‘ ich mir meine Frau zurückholen. Ich bin 62 Jahre alt, 42 davon war ich mit ihr verheiratet. Sie ist meine große Jugendliebe. Würd‘ ich eine Autobiografie schreiben, wär der Titel: „Ich bekenne, ich habe gelebt“.

Ewald: „Der Alkohol war meine Konstante, meine Sicherheit, meine Flucht.“

„In meinem Dorf war ich voll integriert. Genauer gesagt in einer kleinen Gemeinde mit 1.000 Einwohner_innen im Bezirk Jennersdorf. Südburgenland. Dort habe ich eine Landwirtschaft mit meinen Eltern und meiner Ex-Frau betrieben. 30 Jahre lang. Privat lief es mit meiner Frau nicht gut. Wir konnten keine Kinder bekommen. Das hat einen Keil in unsere Beziehung getrieben. Dann ist mein Vater gestorben. Und meine Frau hat sich scheiden lassen. Plötzlich war ich allein mit meiner Mutter. Ich war überfordert mit dem Betrieb. Die Landwirtschaft lief nicht mehr gut. Wirtschaftlicher Abschwung. Alles ist den Berg hinuntergegangen. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Und habe angefangen zu trinken. Ein Liter Schnaps am Tag war es nicht immer, aber oft. Der Alkohol war meine Konstante, meine Sicherheit, meine Flucht.

Die Konsequenz meines Suchtverhaltens war vollkommener sozialer Rückzug. Ich bin nirgends mehr hingegangen. Ich wollte nicht wie andere im Wirtshaus trinken. Nur allein daheim in kompletter Verzweiflung. Wenn man trinkt, hat man viel Schamgefühl. Anfangs hab‘ ich noch versucht zu tricksen und es vor den anderen zu verheimlichen. Irgendwann ging’s nicht mehr. Ich hab‘ all meine sozialen Kontakte verloren. Dann hab‘ ich mich nicht mehr gepflegt.

Vor 2010 war es eher normales gesellschaftliches Genusstrinken gewesen. (Auch wenn Expert_innen vielleicht was anderes sagen würden.) Als mein Betrieb 2013 endgültig geschlossen wurde, trank ich immer mehr. Aus Genuss wurde Alkoholmissbrauch. 2016 gab es eine gute Phase der Quasi-Abstinenz. Dann Rückfall. Aus Alkoholmissbrauch wurde Abhängigkeit. 2017 bin ich nach Graz gekommen, in die Landesklinik Sigmund Freud für Suchterkrankungen. Ich ging aus freien Stücken hin. Meine Familie und die Behörden haben mir dabei geholfen. Freund_innen weniger. Hatte ich ja keine mehr. In der Klinik blieb ich zwei Monate lang und machte Entzug. Im November 2017 trat ich eine Langzeittherapie von 18 Monaten im Aloisianum Graz an. Das ist eine therapeutische Wohngemeinschaft für Alkoholabhängige. Man wohnt in einer WG. Aber mit eigenem Zimmer und eigenem Bad. Der Entzug muss davor bereits beendet sein. Dort werden die sozialen Kompetenzen gestärkt. Finanziell soll man alles wieder auf die Reihe bekommen. Man macht Sport und Bewegung, um ins Leben zurückzufinden. Therapeut_innen, Gruppentherapien, Ergotherapie usw. unterstützen einen dabei. Auch die Reflexion seines Lebens hilft. Als ich von daheim weg kam, habe ich alles liegen und stehen lassen. Ich hatte gar nichts mehr. Ich musste von neuem beginnen. Vieles musste ich neu erlernen. Das Zauberwort lautete: Struktur. Diese hatte ich völlig verloren, ebenso wie meine sozialen Kompetenzen. Das Aloisianum war für mich ein geschützter Raum, ein Anker. Nach Abschluss der Therapie dort kennt man sich nicht mehr aus. Einige gehen zurück in die Heimat. Einige suchen sich in Graz etwas. Ich hätte heim können, zu Haus und Hof. Aber weil der Ort für mich so negativ behaftet ist, mit allem was passiert ist, kann ich nicht zurück. Ich will keinen Rückfall riskieren. Da lass‘ ich den Hof lieber leerstehend.

Mein Ziel ist es, irgendwann wieder eine eigene Wohnung zu haben. Oder eine reiche Frau zu finden – nein, Scherz ;)! Mein Lebensmotto lautet, niemals aufzugeben, immer weiterzumachen. Aus jeder Niederlage entsteht etwas Gutes oder Neues. Die Frage ist nur, ob man selbst dazu im Stande ist. Ich habe Haus und Frau verloren. Meine Familie ist mir zwar schon geblieben, aber sie haben schon sehr viel mit mir mitgemacht. Es war belastend für sie. Ich habe meine Arbeit verloren. Und meine Existenz. Vom Alkohol bin ich zwar relativ erfolgreich weggekommen, aber es ist niemals vorbei. Die Sucht ist ständig da. Als Übergang zum selbständigen Wohnen bin ich in eine betreute WG eingezogen. Das ist ein geschützter Raum, wo es regelmäßige Kontrollen gibt. Aber wenn ich rauskomme, muss ich selbst schauen, dass ich nicht wieder zu trinken anfange. Davor habe ich Angst. Ich fühl‘ mich noch nicht bereit dazu. Gleichzeitig will ich wieder am normalen Leben teilhaben. Ich will Verantwortung übernehmen um frei zu werden. Ich will ein eigenständiges Leben führen. Ich will meinen Horizont erweitern und neu starten. Ich will abstinent bleiben.“

 

C H R I S T I N G Ö L L E R ,

J A S M I N H A I D E R ,

M A R C E L L A D W O R A K ,

J A S M I N P E S A U

reisten für ihr Schulprojekt nach Graz und besuchten gemeinsam mit Sigrun Karre die Arche 38  und das Frauenwohnhaus FranzisCa. Die beidenTexte basieren auf den Interviews, die sie dort geführt haben.