November 2025

Megaphon #357

Tod gewschwiegen

Dem Stereotyp eines Millennials entsprechend sehe ich mich immer noch als Mittzwanzigerin. Auf dem Papier steht jedoch 35. Ich nähere mich dem Alter, in dem Menschen, die ich liebe, dem Tod begegnen. Und ich merke: Ich bin nicht bereit dafür. Nichts macht mir mehr Angst, als jemanden endgültig zu verlieren. Wie ich damit umgehe? Gar nicht. Gemeinsam mit dem Großteil unserer Gesellschaft verstecke ich mich hinter der unausgesprochenen Abmachung, den Tod totzuschweigen. Wir jammern über graue Himmel, schicken das zigste Büro-Meme, zerlegen jeden Liebeskummer – doch das eine Thema, das uns alle verbindet, klammern wir aus. Warum ist das so? In unserer Gesellschaft ist der Tod zum blinden Fleck geworden. Der Kapitalismus lebt von Wachstum, Produktivität und Konsum – alles soll immer weitergehen. Der Tod aber steht für Stillstand und Grenzen. Er passt nicht ins System. Wer würde noch Anti-Aging-Produkte kaufen, wenn Altern und Sterben als normaler Teil des Lebens sichtbar wären? Wer würde sich in Bullshitjobs bis zum Burnout abhakeln, wenn täglich die eigene Endlichkeit spürbar wäre? Wo früher im Kreis der Familie gestorben wurde, geschieht das Ende heute meist hinter institutionellen Mauern. Der Tod wurde professionalisiert – und damit unsichtbar. Wir haben ihn Fachkräften überlassen, und mit ihm das Wissen, wie man Abschied nimmt. Zugleich feiern wir Jugend, Effizienz, Selbstoptimierung. Altern gilt als Makel. Der Tod erinnert uns daran, dass wir begrenzt sind – und dass Erfolg, Besitz und Tempo nichts dagegen ausrichten können. Vielleicht sollten wir ihn wieder in unser Leben lassen: nicht als Bedrohung, sondern als Erinnerung daran, dass alles endlich ist – und dass genau darin etwas Besonderes liegt. Anlässlich von Allerheiligen und Allerseelen haben wir ihn ein bisschen reingelassen. Neben Gesprächen mit unseren Verkäufer:innen über ihre Rituale des Abschiednehmens und einer „Wortspende“ von Theologe Kurt Remele (Seite 9) haben wir den Himmelshafen besucht – das erste stationäre Hospiz für Obdachlose in Österreich (Seite 10). Ich hoffe, dass uns das Leben noch ein paar Jahre schenkt, um uns auf die Endlichkeit vorzubereiten. In der Zwischenzeit: Brechen wir das Schweigen. Geben wir dem Tod seine Würde zurück.

Editorial von Julia Reiter

 

In diesem Monat zu lesen

 

„Ein letztes Zuhause“

Der Himmelshafen ist die letzte Anlaufstelle für alle Menschen, die sie brauchen. Der Himmelshafen in Graz ist Österreichs einziges Hospiz fü obdachlose Menschen. Hier können Menschen wie Sylvester ihre Zeit in Ruhe und Würde verbringen – begleitet von Helfer:innen, die da sind, wenn das sonstige System versagt. (Text: Julia Reiter)

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Diese Umfrage wird in enger Zusammenarbeit mit dem Center for Social Research der Universität durchgeführt.

(Konzept & Ausarbeitung: Matthias Penker, Claudio Niggenkemper)

„Drei Jahrzente Stimme – 30 Jahre Migrant:innenbeirat“

Vor dreißig Jahren bekamen Migrant:innen in Graz erstmals eine politische Stimme: Der Migrant:innenbeirat wurde gegründet. Mein Vater war damals mit Godswill Eyawo befreundet, einer der prägenden Figuren der Anfangsjahre. Drei Jahrzehnte später treffe ich ihn und Irina Karamarković zu einem Gespräch über Aufbruch, Widerstände und das, was bleibt. Barbara Kober, die dienstälteste Mitarbeiterin des Beirats, hat ihre Antworten schriftlich beigesteuert. (Text: Michael Zakary)

ZAHLEN-QUELLEN:

(Graz Museum)

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