Text: Thomas Wolkinger
Fotos: privat

Zum glücklichen Schicksal

Yuliia Malchevska ist auf der Flucht vor dem russischen Großangriff auf die Ukraine im steirischen Deutschlandsberg gelandet, Olha Dolischna in der galizischen Kleinstadt Stryj. Gemeinsam haben die beiden ein erstaunliches Netzwerk zur Unterstützung alle jener aufgebaut, die der Krieg noch härter getroffen hat. 

Olha Dolischna fährt ihren KIA vorsichtig durch die Plattenbausiedlung im Süden des westukrainischen Städtchens Stryj. Es ist Abend, die Straßenbeleuchtung schummrig, am Beifahrersitz hält Yuliia Malchevska Ausschau nach der richtigen Hausnummer. Olha und Yuliia sind ein eingespieltes Team, sie kennen einander seit vielen Jahren, seit beide in einem Zentrum für behinderte Kinder in Tschernihiw aushalfen. Olha, die Tanzlehrerin, und Yuliia, die Juristin in einer staatlichen Bank, die dann, als ihre zweite Tochter zur Welt kam, eine Modeboutique eröffnete. Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine vor drei Jahren vom Zaun brach, hat die Lebensentwürfe der beiden Frauen über Nacht zerstört. Yuliia flüchtete mit ihrer Familie nach Österreich, Olha landete in Stryj, dem Geburtsort ihres Mannes.  

Jeder Wohnblock, den die Autoscheinwerfer aus der Dunkelheit schälen, gleicht dem anderen, die Straßen haben Schlaglöcher. Olha hat den Kofferraum ihres Autos voller Lebensmittel gepackt. Die will sie an diesem Abend zu Familien bringen, die sie dringend brauchen. Um mehr als 300 Flüchtlingsfamilien kümmert sich Olha, die meisten kommen aus dem ukrainischen Osten, wo der Krieg viel unmittelbarer tobt. Sie hilft den Familien dabei, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden, gibt Tipps für die Wohnungs- und Arbeitssuche, besorgt Lebensmittel und Medikamente. Yuliia unterstützt sie von der Steiermark aus, dort sammelt sie Spendengelder und organisiert Transporte. Seit einem Jahr darf sie das auch als Mitarbeiterin der Vinzenzgemeinschaft Eggenberg tun. Für beide ist das Helfen mehr als nur eine Arbeit, es ist ihnen zur Lebensnotwendigkeit geworden. Gerade, weil der Krieg zehntausende Menschen in ihrem Land noch viel härter getroffen hat als sie. „Ich bin sehr glücklich“, sagt Yuliia, „ich habe mein Leben nicht verloren.“ Das Außenthermometer des KIA zeigt minus neun Grad, es liegt Schnee. 

Ein Bunker zwischen den Fronten
Die Fotos, die Yuliia ein paar Wochen später, wieder zuhause in Graz, per E-Mail schickt, zeigen einen dunklen Ort: ein unterirdischer Lehmkeller, der Boden ist mit Karton ausgelegt, es gibt eine Holzbank, Decken, Säcke und einen Haufen Kartoffeln, die für den Winter eingelagert sind. In diesem Erdbunker im Dorf Roischtsche versteckte sich Yuliias Familie gemeinsam mit der ihres Bruders, nachdem sie am 24. Februar 2022 vom Beginn der russischen Invasion erfahren hatten. „Nach Norden zu gehen, war keine glückliche Entscheidung“, sagt Yuliia heute. Als Russlands Panzer vom nahen Belorus aus vorrückten, geriet Roischtsche unter Besatzung. Zu zehnt harrten die Flüchtenden 38 Tage lang unter der Erde auf nur vier Quadratmetern aus – ohne Strom und Heizung, ohne sauberes Wasser, ohne ausreichend Nahrung und in der ständigen Angst, entdeckt zu werden. „Wir waren immer hungrig“, erzählt Yuliia, die in dieser Zeit sieben Kilo verloren hat. „Ich hatte so viel Stress, Angst vor allem.“  

 Anfang April gelang es der ukrainischen Armee, die Blockade zu durchbrechen. Tschernihiw lag in Trümmern, die Boutique war verloren und Yuliia wollte nur noch weg. Drei Tage dauerte die Flucht über Ungarn, am Ende verschlug es sie nach Deutschlandsberg. Dort kam Yuliia mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Eltern in einer aufgelassenen Buchenschank unter. Yuliia, die Juristin, war 37, als sie nach Österreich kam, und gezwungen, ihr Leben neu zu starten. Sie begann, in einem Gasthaus zu kellnern und zu putzen. Und sie begann, ehrenamtlich Hilfe für die Ukraine zu organisieren. Erst war es ein Korb mit Lebensmitteln, Süßigkeiten und Medikamenten, dann ein zweiter, bald füllte Yuliia gemeinsam mit hilfsbereiten Deutschlandsberger:innen einen ersten LKW mit Hilfsgütern.  

Überleben im Plattenbau 
Kseniia wartet in der Kälte, um uns zur richtigen Adresse zu lotsen. Die Wohnung der Familie Baklan in einem der Plattenbauten am Rand von Stryj ist sehr schlicht eingerichtet, am Boden sind Sperrholzplatten verlegt. Auf dem Küchentisch erinnert ein ukrainisches Fähnchen an die Heimat, Melitopol steht darauf. Melitopol, nahe des Asowschen Meeres und früher berühmt für seine Kirschen, wäre beinahe der Ort geworden, an dem Juri, Kseniias Vater, sein Leben verloren hätte. Auch so ist nicht viel davon übrig. Das Haus, das er mit eigenen Händen erbaut hat, wurde am ersten Kriegstag durch eine russische Rakete zerstört. Juri, Lidia und Kseniia kamen mit dem Leben davon. Mutter und Tochter flüchteten über Warschau und Deutschland und zurück nach Stryj, Juri aber wollte nicht weg und blieb in der besetzten Stadt. 

Was dann dort im Dezember 2022 genau passierte, versucht Kseniia bis heute zu rekonstruieren. Warum nahm Juri an diesem Tag mit seinem Rad eine Straße zur Fabrik, die er sonst wegen der Soldaten mied? „Hat er sich den Partisanen angeschlossen?“, fragt Kseniia. Juri kann diese Fragen nicht mehr beantworten. Er sitzt in der Küche und lächelt abwesend. Jedenfalls stieß an diesem Tag, drei Tage nach Weihnachten, ein russisches Militärfahrzeug Juri vom Rad und fuhr einfach weiter. So haben es Augenzeugen berichtet. Als Kseniia und ihre Mutter Juri wiedersahen, erkannten sie ihn nicht wieder. 50 Tage war er auf der Intensivstation: Schädel-Hirn-Trauma, halbseitige Lähmung, gebrochene Rippen. „Als er aus dem Spital kam, war er wie ein T-Shirt, das auf dem Sofa lag“, sagt Kseniia, die sich mit ihrer Mutter ins besetzte Melitopol durchschlug, um ihren Vater zu evakuieren. Hier in Stryj betreut sie Juri gemeinsam mit Lidia rund um die Uhr. Die teure Reha können sie sich nicht leisten, das wenige Geld geht für Miete, Windeln und Medikamente auf. „Wir haben früher nicht in Luxus gelebt“, sagt Kseniia, die in Stryj ein paar Hrywnja mit Englisch-Unterricht dazuverdient. „Aber jetzt haben wir gar nichts.“ 

Eine lange Liste des Elends
Jede Familie, die Olha und Yuliia an diesem Abend besuchen, kann eine Geschichte von einem Davor und einem Danach erzählen. Olha Skibind-Tokar zum Beispiel. 42 Jahre lang hat sie in Saporischschja gearbeitet, eigentlich sollte sie ihre Pension genießen. Dann riss am 10. Oktober 2022 eine russische Rakete eine tödliche Schneise in ihren Apartmentblock. Mit ihrer 95-jährigen Mutter, ihrer Tochter, die Brustkrebs hat, und ihrem Enkel, der mit einer Autismus-Störung lebt, ist sie seither auf der Flucht. Die Wohnung in Stryj ist die fünfte, in der sie versucht, Halt zu finden. Auch für diese Wohnung zahlt sie Wuchermieten. An den Wänden wuchert schwarzer Schimmel.  

 Oder Tetyana Yurychenko aus Orichiw. Sie arbeitete als Krankenschwester und, seit sie zum ersten Mal die Kinder im Waisenhaus „Kleine Sonne“ sah, ist sie auch Pflegemutter. Von ihrem Haus ist nach einem Raketentreffer nicht viel übrig. Mit ihrem Mann, sieben Pflegekindern und zwei eigenen schlug sie sich nach Stryj durch. Dort wohnen sie in einem Haus, das die Stiftung der Präsidentengattin Olena Selenska bauen ließ. Es ist geräumig, gehört ihnen allerdings nicht. Die staatliche Unterstützung reicht gerade für Strom, Heizung und die Versorgung der inzwischen elf Pflegekinder.   

Olha Dolischna kennt all diese Geschichten. Darüber, was in den Familien dringend benötigt wird, führt sie genau Buch und informiert Yuliia, die versucht, das Geld aufzutreiben. Bei Familie Baklan steht „Rehabilitation“ in Olhas Excel-Dokument, bei Familie Skibind-Tokar  „Kühlschrank“. Aus Bachmut, Charkiw, Berdjansk kommen die Frauen mit Kindern, die Alten und Gebrechlichen, die Kriegsverletzten, die hier mit ihren Nöten verzeichnet sind. Es ist eine Liste all des Elends, das der russische Krieg über die Ukraine gebracht hat.  

Orte der Hoffnung
12,7 Millionen Menschen sind in der Ukraine auf humanitäre Hilfe angewiesen. Der Bedarf sei „massiv und ernst“, schreibt Elisabeth Arnsdorf Haslund, Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Kyjiw, in einem E-Mail. Dabei entwickle sich die globale Funding-Situation derzeit „sehr kritisch“, formuliert sie vorsichtig. Man müsse harte Entscheidungen treffen, die Hilfe priorisieren. Der Osten und Süden des Landes sind durch die Nähe zur Front besonders stark betroffen. Für die Geflüchteten in der Westukraine werde es künftig wohl weniger Unterstützung geben, fürchtet Haslund.  

 Ähnliche Sorgen hat Volodymyr Mamchyn, Direktor der Caritas Stryj, griechisch-katholischer Priester und Doktoratsstudent an der Uni Innsbruck. Seit Kriegsbeginn hat er mit seinem Team Tausenden Geflüchteten geholfen, erzählt er im Zoom-Gespräch. Ungefähr 10.000 lebten aktuell im Rajon Stryj, genau wisse das keiner. Doch beide großen Krisenprogramme, ein US-finanziertes für Notunterkünfte und eines für mobile Hilfe, das von der Caritas Österreich und von Nachbar in Not gefördert wird, laufen bis Sommer aus. Noch ist unklar, ob und wie es weitergeht „Manche glauben, dass nur die Menschen an der Front Hilfe brauchen“, sagt Mamchyn. Dabei seien die Bewohner der Flüchtlingsheime besonders gefährdet, Menschen mit Behinderung, Kranke und Alte. „Diese Menschen bleiben hier, sie verschwinden nicht einfach!“ Die Hoffnung hat ihn dennoch nicht verlassen, trotz der düsteren geopolitischen Entwicklungen: „Jetzt spürt die ganze Welt ein bisschen davon, was die Ukraine schon drei Jahre lang spürt“, sagt er. „Wir sagen zu Europa: Habt keine Angst! Wir werden das zusammen schaffen.“ 

 

Der Greißler der Herzen
Vor einem Jahr hat Olha Dolischna einen kleinen Greißlerladen im Zentrum von Stryj eröffnet, „Glückliches Schicksal“ heißt er. Hier besuchen sie die Flüchtlinge, die nicht mehr weiter wissen. In einer dicken, weißen Mappe hat Olha die Dokumente der rund 600 Menschen gesammelt, um die sie sich kümmert. Zurzeit kommen im Schnitt fünf neue Familien in die Stadt, schätzt sie. So wie sie, als sie mit Mann und die Söhnen Tschernihiw am ersten Tag des Krieges verließ und eine glücklichere Entscheidung traf als Yuliia. Eine Woche nach der Ankunft saß sie dann schon in einem Transporter, fuhr alle paar Tage an die polnische Grenze und lieferte Hilfsgüter aus. Dass auch Yuliia Hilfe in Deutschlandsberg organisierte, hat da gut gepasst.   

 An einer Wand von Olhas Geschäft hat Yuliia Malchevska ein Regal mit Kleiderspenden eingerichtet. „Nimm und lächle“ steht auf einem Zettel. Die Lebensmittel- und Kleiderspenden sind nur ein Teil der Aktivitäten, die Yuliia im letzten Jahr im Rahmen des Projekts „VinziHerz – Hilfe für Vertriebene“ umgesetzt hat. Ihr Jahresbericht vom April verzeichnet 50 verschiedene Aktionen – für die Musikschule von Lwiw, für Waisenhäuser, für ein inklusives Theater, aber auch für Geflüchtete in Notlagen, die jetzt in der Steiermark leben.  

 Eigentlich ist die Not der Geflüchteten zu groß für Olha und Yuliia. Auch für Volodymyr, den Caritas-Priester. Oder das UNHCR. Es könne sein, sagt Olha, dass sie „mehr als 24 Stunden“ täglich im Einsatz ist. Aber sie kann nicht aufhören, daran zu denken, was andere Menschen im Krieg verloren haben. Auch deswegen schmiedet Olha große Pläne für die Zukunft. Ein Mädchen hat diese Pläne mit bunten Farbstiften gezeichnet, das Bild hängt im Shop. Es zeigt einen Ort, wie ihn sich Olha wünscht. Einen Ort, an dem alle Vertriebenen Platz haben. Mit Sanatorium, Kinderspielplatz, Schule, Reitstall und Swimmingpool. So etwas wie ein „Glückliches Schicksal plus“. Sobald sie dazu kommt, wird Olha einen Businessplan für diesen Ort aufstellen, sagt sie. Den wird sie dann nach Graz schicken, weiß Yuliia und lacht. „Aber zur Zeit“, sagt sie, „sind das nur Träume.“ 

  

„VinziHerz – Hilfe für Vertriebene“ kann man mit einer Spende auf das folgende Konto unterstützen: AT88 2081 5000 4552 3271 

Die Spende ist steuerlich absetzbar. 

Spenden an die „Caritas Stryj Eparchy“, JSC Kredobank Lwiw:  

IBAN UA323253650000000260020037359, SWIFT: WUCBUA2X 

 

 

THOMAS WOLKINGER war das erste Mal in der Ukraine, als die noch Teil der Sowjetunion war.