Megaphon #353
Eine Sache der Perspektive
2018 veröffentlichte das Investigativ-Medium ProPublica das Spiel „The Waiting Game“. Basierend auf echten Akten von fünf Asylwerber:innen aus fünf Ländern und Interviews mit medizinischen und juristischen Fachleuten war es eines der ersten experimentellen Nachrichtenspiele überhaupt. Es lässt Spielende in die Rolle von Asylwerber:innen schlüpfen – von dem Moment an, in dem sie sich entscheiden, in die Vereinigten Staaten zu migrieren.
Mittlerweile sind solche kreativen Varianten des Geschichtenerzählens weitgehend verschwunden. Anlässlich der Geschichte einer georgischen Familie, die seit knapp sechs Jahren in Österreich auf einen legalen Status hofft und der nun die Abschiebung droht (Seite 24), habe ich mir „The Waiting Game“ erneut angeschaut.
Trotz der amerikanischen Verortung lassen sich viele Parallelen ziehen. Das Spiel besteht fast nur aus Text und Entscheidungen. Vieles läuft automatisch ab – vor allem das Warten: Wochen, Monate, teils Jahre vergehen, ohne dass man etwas tun kann. Die Erfahrung ist frustrierend, zermürbend und beklemmend – und dennoch nur annähernd so wie für die Menschen, deren Geschichten es erzählt.
Warum ich das erwähne? Flucht, Migration, Asylprozesse sind abstrakt geworden. Es sind quantifizierbare Prozesse, die in Jahresberichten als Zahlen erscheinen, in Nachrichten beiläufig erwähnt werden und fester Bestandteil politischer Polemik sind. Niemand denkt an Menschen, nur mehr an Statistiken. Was hinter jeder Zahl steht, blenden viele geschickt aus – zum Schutz (da nehme ich mich nicht aus) oder zur Wahrung eines Weltbilds.
Wenn Menschen sich entscheiden, ihre Heimat, Familie und Kultur zu verlassen, um trotz aller Gefahren Sicherheit zu suchen, geschieht das nicht aus Willkür. Wer würde nicht alles tun, um die eigene Sicherheit und die der Liebsten zu gewährleisten? Genau das erlebt die georgische Familie aus unserer Geschichte – sechs Jahre Hoffnung, die nun in einer drohenden Abschiebung enden könnte.
Ist das der Maßstab für den Umgang miteinander? Die Art, wie jede:r von uns behandelt werden möchte? Es bleibt wohl alles eine Sache der Perspektive.
Editorial von Claudio Niggenkemper
In diesem Monat zu lesen
(K)ein Recht auf Gesundheit?
In einer Reportage begleitet Redakteur Claudio Niggenkemper eine georgische Familie, die seit sechs Jahren in Graz lebt. Tochter Mariam ist 16 und schwerbehindert – doch trotz medizinischer Warnungen droht die Abschiebung. Was zählt mehr: Menschenrecht oder Asylrecht?
„Nie wieder ist jetzt“
Julia Reiter trifft die Aktivistin Nora, deren Wohnung im Frühjahr vom Sondereinsatzkommando gestürmt wurde. Was bleibt nach Maschinengewehren und Hausdurchsuchung? Ein Gespräch über Aktivismus und Repression.
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Elisabeth Potzmann, Präsidentin des Gesundheits- und Krankenpflegeverbands, spricht mit Marlene Seidel vom Podcast @wieweiter_podcast über Systemfehler, feministische Verantwortung in der 24-Stunden-Betreuung und ihre Vision für die Pflege im Jahr 2040.
Quellen zu den Zahlen