Text: Lilli Schuch
Fotos: Vladimir Milojkovic

Als ob es kein Morgen gäbe

Nach 35 Jahren bin ich wieder zu einer serbischen Hochzeit in Smederevo, knappe 50 Kilometer südlich von Belgrad, eingeladen. Damals war es Hochzeit in Ex-Yugoslawien, dieses Mal in der Republik Serbien. Obwohl viel neu ist – die serbischen Hochzeiten bleiben eigentlich immer gleich: Sie dauern mindestens drei Tage, die Hochzeitsgäste sind Minimum ab 300 aufwärts zu zählen, und es wird viel gesungen, getanzt – und gegessen. Zum Beispiel 45 Torten.

Via Propellerchen von Zagreb nach Belgrad

Schon am neuen Zagreber Flughafen – mit dem klingenden Namen „Franjo Tudjman“ – wusste ich: „Hui, das wird eine Reise!“ Der Flug verspätete sich um fast eine Stunde, es erfolgte keine offizielle Meldung darüber. Die Passagier:innen, meistens aus Serbien, waren sehr ruhig und geduldig. Ich hatte den Eindruck, die trauen sich gar nichts zu fragen, damit nicht schon wieder alles in Richtung „Serb:innen-Kroat:innen-Dispute“ interpretiert wird. Ich, als Kroatin, rief die Infostelle am Flughafen an und beschwerte mich. Als Dankeschön für meinen „Mut“ lud mich ein serbischer Businessman aus Novi Sad zuerst auf ein Getränk ein, dann auch auf ein zweites. Nach diesen schwachen Flughafen-Gin-Tonics stiegen wir endlich in das Flugzeug, das populär als Propelerko/Propellerchen bezeichnet wird. Es war das kleinste Flugzeug, das ich je sah, aber angeblich technisch sehr gut und sicher – und seit Titos Zeit sehr beliebt. Mamma mia! Ich fühlte mich wie im Lego-Flugzeug meiner Kinder, alles sehr klein und eng, es flog so niedrig, dass ich fast sehen konnte, was die Leute auf der Erde auf ihren Terrassen am Nachmittag zum Kaffee aßen. Von Angst war keine Rede, Gin-Tonics und die gute Gesellschaft haben ihr Bestes gegeben. Im Nu waren wir in Belgrad. Obwohl beim Bräutigam schon längst Feiern angesagt war, ließ er seine Gäste alleine und kam mich persönlich abholen. „Die Tante aus Europa“, so nennt er mich aus Spaß, komme nicht jeden Tag vorbei, meinte er, und wir fuhren noch eine Autostunde bis Semederevo. Als ich meine Cousine und ihre Familie nach so langer Zeit wieder sah, wusste ich, dass es ein Wiedersehen von der Sorte „als ob wir uns gestern das letzte Mal gesehen haben“ wird.

Im üppigen Garten des Bräutigams

Die serbischen Hochzeiten sind drei- und mehrtägige Feste. Zwei Tage feiert man beim Bräutigam im kleineren Rahmen; am Haupthochzeitstag wird in einem großen, gemieteten Saal mit allen Gästen sehr intensiv gefeiert. Wir saßen an diesem warmen Juli-Abend vor der Hochzeit, in diesem schönen und üppigen Garten des Bräutigams: Die meterhohe Hibiskushecke blühte in Zartrosa und Lilla, Surfinien hängten überall, der Granatapfelbaum war übersät mit Blüten, viele Kletterpflanzen klammerten an den Zäunen und anderen Bäumen. Der Garten hatte für mich etwas Orientalisches, weil die Blumenpracht sehr üppig und nicht alles so übersichtlich und geordnet war, wie ich es sonst aus dem Westen kenne. Ich dachte an Orhan Pamuks Beschreibungen der schönen Gärten in Istanbul und fühlte mich wie in einer anderen Welt. Diese Stadt war fast 500 Jahre unter osmanischer Herrschaft. Nicht nur monumentale Festungen, die im 15. Jahrhundert zur Verteidigung gegen die türkische Besatzung erbaut wurden, zeugen von dieser Zeit, sondern auch die Blumen im Garten des Bräutigams, dachte ich. Durch den ganzen Garten streckte sich ein sehr langer Tisch. Serviert wurden serbisches Fingerfood, winzige Teigkügelchen mit Erdnuss etwa, und natürlich Berge an Grill-Spezialitäten. Im Garten befanden sich auch einige ganz große Kühlschränke, die man sonst aus der Großgastronomie kennt: einer für die Getränke, ein anderer für Kuchen, Torten und Eis. Und in einem waren sogar nur die Wassermelonen!

Der große Tag: Hochzeit und Taufe in einem

Das Hochzeitprozedere ist fix geregelt: Es wird von 11 Uhr vormittags bis 11 vor Mitternacht offiziell gefeiert. Zuerst treffen sich viele Gäste im Garten der Bräutigams, eine Band ist auch dabei, es wird alles schön gedeckt, viele Stehtische, die man im Morgengrauen aufgestellt hat, sind randvoll mit Häppchen und Getränken, Šljivovica wird von einem zum anderem gereicht. Wie eine Stafette. Man wartet auf Braut und Bräutigam, die seit einem Jahr gemeinsam leben und eine kleine, süße Tochter namens Kalina haben, die heute auch getauft wird. Als sie sich endlich zeigen, folgt ein lauter Applaus. Nach einer gewissen Zeit steigen alle in die Autos, die mit Blumen und handgefertigten, gestickten Tüchern geschmückt sind, und fahren zur Kirche des heiligen Georg, eines großen Märtyrers, gleich am Rande der Stadt, in Jasenak. „Jasenak ist eigentlich ein sehr stark und gut riechender Baum. In seinen Wäldern haben viele Wunderheilungen stattgefunden, daher baute man hier diese kleine, aber sehr schöne Kirche”, erklärte mir meine Cousine kurz vor dem Eintritt in die Kirche, deren Wände gänzlich mit Ikonen und Fresken geschmückt sind. Ein anderer Verwandter erzählte mir ganz leise, bevor die Vermählung anfing, dass in Serbien die Kirche in den letzten 30 Jahren extrem an Bedeutung gewonnen hatte. Früher dominierte die kommunistische Ideologie, jetzt im 21. Jahrhundert wenden sich Serb:innen massiv der Kirche und „dem Glauben ihrer Vorfahren“ zu.

Nicht nur Ringe, sondern erst die Kronen führen zur Ehe

Das serbisch-orthodoxe Sakrament der Ehe ist sehr komplex: Braut und Bräutigam reichen sich gleich am Anfang gegenseitig dünnen, lange, ockerfärbige Kerzen und tragen sie die ganze Zeit der Zeremonie vor sich. Erst dann tauscht man die Ringe, man sagt, dieser Teil ist wie eine „zivile Trauung“ und hier fallen die „Ja, ich will!“-Worte. Danach folgt eine Prozession. Der Priester führt das Brautpaar und Paten in die Mitte der Kirche und singt Psalm 128. Ab diesem Moment fängt die kirchliche Trauung an. Dieses Mal ohne irgendein Gelöbnis, weil nach dem serbisch-orthodoxen Glauben, die Ehe kein „Vertrag“ ist, sondern etwas wie eine „Taufe“ und das Ehepaar wird auch gekrönt. (Die Kronen sind ein Symbol für das Reich Gottes.) Danach trinken sie genau drei Schluck Wein und gehen drei Mal um den Altar. Beim letzten Amin (serbisch Amen) werden die Kronen abgesetzt und die kirchliche Hochzeit ist beendet. In unserem Fall war es der Beginn der Taufe. Wir fragten uns, wie das kleine, süße Mädchen alles durchstehen wird, da sie die ganze einstündige Trauung in den Händen ihres Paten getragen wurde und in dieser kleinen Kirche ziemlich viele Menschen im Kreis standen, und zwar links die Frauen, rechts die Männer. (Übrigens: In serbischen Kirchen gibt es keine Bänke!).

Das Prozedere, um das Sakrament der Taufe zu bekommen, ist auch fest vorgeschrieben – drei Mal wird das Kind ins heilige Wasser mit dem Kopf „eingetaucht” oder nur, wie bei uns, drei Mal betröpfelt. Kalina machte keinen Aufstand, schaute neugierig die ganze Zeit um sich und wurde eine kleine Heldin des Tages.

Nix für Veganer:innen


Als die Trauung und Taufe vorbei waren, spielte eine nicht eingeladene Roma-Band serbische „Kolo“ (Rundtanz, Reigen) und das bekannte Lied „Durdevdan/Ederlezi“ (bekannt aus Kusturicas Film „Time of the Gypsies“). Ich war begeistert und tanzte gleich mit. Das dauerte aber nicht allzu lang, weil man zum richtigen Feiern im geräumigen Saal in einen anderen Teil der Stadt fuhr. Unzählige große, runde Tische, viel Deko, grelle Lichteffekte, alles durchgeplant, wer wo sitzt. Eine „Rezeptionistin“ führte die Gäste zu ihren Tischen, ein Kellner war sofort da und wich den ganzen Abend nicht von der Seite. Es gab vier Gänge. Darunter ganz viele kalte Platten, eine dickere Kalbssuppe (Teleca corba), Unmengen an Fleisch aller Art mit vielen Beilagen und Salaten. My favorite: Šopska salata und Mantije – ganz, ganz winzige Fleischteigtaschen. Und als Dessert? 45 Torten! Während einige aßen und einige sangen, liefen gleichzeitig das Shooting mit dem Brautpaar und die Übergabe der Geschenke. Das Brautpaar und seine Tochter standen fast zwei Stunden in einer Ecke des Saales, die zur Shooting-Location umgebaut worden war, und ließen sich mit jedem Gast fotografieren. Dabei wurden auch die Geschenke überreicht, allerdings nur Kuverts mit Geld. Eine ganz große Überraschung für mich: Sehr oft war kroatische Musik bei dieser serbischen Hochzeit zu hören. Und in Kroatien hört man wiederum sehr gerne serbische Musik. Wenigstens musikalisch lieben sich diese zwei oft so verfeindeten Völker.

Roma-Trompeten als Highlight

Gegen 21 Uhr stürmten mehrere Roma-Musiker:innen mit ihren riesigen Trompeten den Saal. Eine Bombenstimmung breitete sich sekudenschnell aus. Ich dachte, das ganze Gebäude wird in die Luft gehen. Niemand saß mehr auf dem Sessel, alle tanzten, sangen und kreischten – so etwas habe ich wirklich noch nie erlebt. Meine erste Hochzeit in Serbien anno domini 1987 war ohne Kirche und ohne Roma! Ich war dermaßen beeindruckt von dieser starken, groovigen Musik und wollte mich bei der Band mit einer Geldspende bedanken (am Balkan ist es üblich, Geldscheine in die Musikinstrumenten zu stecken oder den Sängerinnen ins Dekolleté.) Da ich nicht wusste, wohin mit dem Geld, fragte ich einen von den Musiker:innen. Er antwortete: „Gib das Geld dem Dicksten von uns, er braucht am meistens zum Essen!“

Wir feierten noch einige Stunden beim Bräutigam im Garten bis tief in der Nacht. Am nächsten Morgen ging die Party weiter. Als Frühstück gab es ein Ferkel als Geschenk des Paten. Dazu: die schärfste Paprika der Gegend. Als ich nach fünf Tagen in Graz war, wusste ich nicht, ob ich zur EBA fahren, um eine Regenerationsinfusion zu bekommen, oder zuerst zum HNO-Arzt gehen sollte: Ich hatte meine Stimme verloren. Serbische Hochzeiten rauben einem die physischen Kräfte, tun aber der Seele sehr gut; sie sind einmalig und unvergesslich – und man sollte sie öfters erleben, nicht nur alle 35 Jahre. Bald bin ich wieder bei einer dabei. Diesmal nehme ich aber gleich Magnesium und Isla-Halstabletten mit.

Lilli Schuch war von der Hochzeit so begeistert, dass sie unbedingt darüber schreiben wollte.