Text: Denise Hruby
Fotos und übersetzung: Marta Kasztelan

Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft

Viele Jüdinnen und Juden wurden während des Nationalsozialismus enteignet, beraubt oder mussten Besitztum unter Wert verkaufen. Der Prozess der Restitution ist noch nicht abgeschlossen. Auch in Polen nicht. Dort wird nun ein Gesetz gefordert, das die Rückvergütung von ehemals jüdischem Eigentum ohne Erben unter Gefängnisstrafe stellen würde. Denise Hruby und Marta Kasztelan waren in Polen und haben festgestellt: Nicht nur Rechtsextreme unterstützen diese Idee.

Bengalisches Feuer lässt das Antlitz von Andrzej Majczak in dunklem Rot erstrahlen, fast verstecken die Flammen die herben Gesichtszüge des 40-jährigen Matrosen, der Jahre auf See verbrachte. Auf einer kleinen Bühne, die im Schatten des Nationalstadiums Warschaus geradezu mickrig wirkt, singt ein römisch-katholischer Chor. Immer wieder rufen Gruppen von Männern: „Gott, Ehre, Vaterland!“ Die Männer posieren für Fotos, die Flagge Polens als Anstecknadel an der Brust, bengalische Feuer in der Hand. Um an dem alljährlichen Unabhängigkeitsmarsch zum Nationalfeiertag Polens in der Hauptstadt Warschau teilzunehmen, nahm Majczak mit seiner Frau und den drei jüngsten Kindern eine vierstündige Reise von ihrer Heimatstadt Danzig im Norden des Landes auf sich, um, wie es der Familienvater bezeichnet, „die polnische Nationalität zu manifestieren“. Bis zu 150.000 Menschen sollen es Majczak an diesem klirrend kalten Novembertag gleichgetan haben, so die Veranstalter.

 

 Junge Pärchen und Familien wie die Majczaks, auch Priester nehmen teil – vor allem aber ist der Marsch für die radikale Zurschaustellung des Nationalstolzes der Polen bekannt, die hierzulande viel eher an einen Aufmarsch von Fußballhooligans erinnern würde. Tausende Ultrafaschisten, Rechtsextreme und Nationalisten geben den aggressiven Ton der Veranstaltung an, längst hat der Unabhängigkeitsmarsch den Ruf, der größte Auflauf der rechtsextremen Szene in ganz Europa zu sein. „Tod den Verrätern des Vaterlandes“ steht auf ihren Bomberjacken. Mittendrin tummeln sich Familien wie die Majczaks, unbeirrt von den Feuerwerkskörpern, die durch die Menge zischen.

 

 Pol_innen seien stolz und treten für die Wahrung der eigenen Kultur und Identität ein, beides sei stark mit dem römisch-katholischen Glauben verbunden, dem mehr als 87 Prozent der Bevölkerung offiziell angehören. Andere Glaubensrichtungen seien nicht polnisch, Homosexualität solle bestraft werden und Abtreibungen verboten: Die rechtsradikalen Veranstalter des Marsches, die beste Beziehungen zur ultranationalen Konföderationspartei pflegen, heizen die Stimmung an. An diesem 11. November haben sie aber vor allem ein Anliegen: genügend Unterschriften für einen neuen Gesetzesentwurf zu sammeln, der vorsieht, jegliche Restitution von ehemals jüdischem Eigentum ohne Erben strafbar zu machen. Was absurd klingt – bis zu 25 Jahre Haft sieht der Entwurf für Beamte vor, die Forderungen nach Restitution verfolgen würden – ist hier in der Mitte der Gesellschaft angekommen. „Ich habe mit Überzeugung unterschrieben“, erklärt Majczak. Für ihn seien Forderungen nach Restitution die größte Bedrohung für die Zukunft des polnischen Volkes.

 

 Vor dem 2. Weltkrieg lebten über 3,2 Millionen Jüdinnen und Juden im heutigen Polen – mehr als in jedem anderen europäischen Land. Mindestens drei Millionen starben in den Konzentrationslagern der Nazis. Die wenigen, die überlebten, wanderten oft in die USA oder ins spätere Israel aus. Wohnungen, Häuser, Grundstücke, Kunst – und was auch immer Wert hatte, ging, sofern es keine eindeutigen Nachkommen gab, in den Besitz des Staates über. Zwar war auch in anderen europäischen Länder die Frage der Restitution keine einfache. Laut dem European Shoah Legacy Institute bleibt Polen jedoch das einzige EU Land, das sich der Restitution bis heute nicht ausreichend angenommen hat. Dass die Frage über 70 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges überhaupt diskutiert wird, liegt an der Deklaration von Terezin, die Polen 2009 unterschrieb. In ihr verspricht das Land, dass Eigentum von jüdischen Familien, die im Holocaust zur Gänze ausgelöscht wurden, entweder an verarmte jüdische Familien oder an jüdische Organisationen, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, zugute kommen soll. Kurz nachdem die Deklaration unterschrieben war, war das Thema schon wieder vergessen. Bis letzten Februar, als sich US-Außenminister Mike Pompeo während eines Staatsbesuches in Polen öffentlich dafür aussprach, dass Polen endlich seine Versprechen erfülle. Straßenproteste waren die Folge.

 

 „Es ist ein unverfrorener Versuch, uns zu bestehlen“, poltert Majczak. Nach dem langen Marsch durch Warschaus Altstadt, über die Weichsel und um das Nationalstadium schallten immer wieder angstmacherische Ansagen durch die Lautsprecher: Restitution würde „Armut und Elend für eure Kinder” bedeuten. Auch die vielen jungen Freiwilligen, die Unterschriften für den Gesetzesentwurf gegen jegliche Restitution sammeln, prophezeien das Ende des Wohlstands in Polen, sollte es je zu Restitution von jüdischem Eigentum ohne Erben kommen. Bis zu 40.000 Menschen unterschreiben an diesem Tag die Unterstützungserklärung für den Gesetzesentwurf.

 

 Der Entwurf sei weder harsch noch übertrieben, erklärt Krzysztof Bosak, der seit November für die Konföderation im Nationalrat sitzt. Bei 100.000 Unterschriften müsse der Entwurf diskutiert werden – die Konföderation würde ein neues Gesetz unterstützen. „Wir müssen die Gesetze Polens zum Schutz polnischen Eigentums stärken, weil wir geheime Verhandlungen in Bezug auf Restitution vermuten“, so Bosak. Prinzipiell hat sich auch die regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) gegen Restitution ausgesprochen; auf Nachfrage, ob sie den Gesetzesentwurf unterstützen würde, schweigt die populistische Partei bis Redaktionsschluss. Erst 2018 trat unter PiS das sogenannte „Holocaust-Gesetz“ in Kraft, das es unter Strafe stellt, von polnischen Nazi-Kollaborateuren zu sprechen.

 

 „Wenn man die Aussagen der Regierung und die der Konföderation kombiniert“, so der Journalist Konstanty Gebert, „dann ergibt sich das Bild, dass die Polen ihr Leben opferten, um die Juden zu retten, und dass die undankbaren Juden jetzt Kompensation wollen.“ Gebert ist Fellow am „European Council on Foreign Relations“ und einer der prominentesten Vertreter der jüdischen Glaubensgemeinschaft in Polen. Er erklärt, dass es in der Deklaration von Terezin nicht darum gehe, polnische Familien aus ihren Wohnungen zu vertreiben, um sie jüdischen Organisationen zu überschreiben, „sondern um die Anerkennung eines historischen Unrechts und die Aufarbeitung der Geschichte.“ Er sagt weiter: „Auf verlogene Art werden die Juden bezichtigt, Polen ausrauben zu wollen.“ Den Gesetzesentwurf sieht er als Zeichen des wachsenden Antisemitismus in Polen. Seit etwa 15 Jahre beobachte er, dass der Hass auf Jüdinnen und Juden immer mehr im gesellschaftlichen und politischen Diskurs akzeptiert sei. Hassmails und Drohungen gegen jüdische Einrichtungen nehmen zu, und obwohl es keine gewalttätigen Vorfälle gab, heuern viele Einrichtungen private Sicherheitsfirmen an. Antisemitismus würde verharmlost und sei nun gesellschaftlich akzeptiert, meint Gebert. Hetzerische Parolen lösen bei nur wenigen mehr als ein Wimpernzucken aus.

 

Nicht mal in der neoromantischen Nozyk Synagoge, der einzigen Synagoge Warschaus, die den 2. Weltkrieg überdauerte. Einen Tag nach dem Marsch schweift der Blick von 35 Montessorischüler_innen fragend von der Bima zum Thoraschrein. In dicke Daunenjacken gewickelt sitzen sie in den hölzernen Bankreihen, um mehr über den jüdischen Glauben zu lernen. Fast alle stammen aus atheistischen, politisch liberalen und linken Familien, erklärt ihre Lehrerin, Aleksandra Majka. Gerade deshalb sei es ihr wichtig, ihnen verschiedene Glaubensrichtungen näherzubringen. Von den Parolen während des Marsches und vom Gesetzesentwurf habe auch die junge, engagierte Lehrerin gehört – und sie als nicht weiter schlimm befunden. Auch wenn sie beides nicht gutheiße, so glaube sie nicht, dass Polen ein Problem mit Antisemitismus habe. „Wenn man Polen mit anderen Ländern vergleicht, dann fallen wir gar nicht weiter auf“, glaubt Majka – und zuckt mit den Schultern.