Text: Julia Reiter
Illustrationen: Kristina Kurre

Bekenntnisse einer Rassistin 

Rassismus beschränkt sich nicht auf vorsätzliche Taten einzelner Rechtsextremer. Vielmehr handelt es sich um ein System, das alle Bereiche unseres Lebens durchdringt. Unsere Redakteurin Julia Reiter hat ihr eigenes Bewusstsein nach Spuren von Rassismus durchforstet und ist dabei auf viel weiße Zerbrechlichkeit gestoßen.

Die gesamte Reflexion baut auf der jahrelangen, mühsamen Arbeit von People of Color, wie Amira oder den zitierten Autorinnen Hasters und Ogette, auf – an dieser Stelle erstmals DANKE! Manche Leser_innen können die Denkanstöße vielleicht besser annehmen, weil sie hier von einer weißen Autorin kommen. Und so kommt es schon bevor wir überhaupt loslegen können, zu einem Beispiel von strukturellen Rassismus.

Ein Paar betritt den Saal. Händchenhaltend. Er einen halben Kopf kleiner als sie, die überhaupt Model sein könnte mit ihrem langen blonden Haar und noch längeren Beinen. Die beiden unterhalten sich über die Tischwahl. Sein Deutsch ist gebrochen. Englisch fällt ihm leichter. Während sich die Gäste inmitten von Weihnachtskugeln und Plastikengerl niederlassen, versuche ich zu verdrängen, was sich mir penetrant aufdrängt: Warum ist sie mit ihm zusammen? Helfersyndrom? Hang zur Exotik? – Solche Gedanken können unmöglich meine sein. Er ist Schwarz, ich bin keine Rassistin.

Phase 1: Happy Land

„Denn vor Gott sind alle Menschen gleich.“ (Römer 2,11) Ich komme aus einem christlich geprägten Elternhaus. Nächstenliebe wurde mir praktisch in die Wiege gelegt. „Onkel Toms Hütte“ verschlinge ich unter Tränen. Mein Schulrucksack ist übersät mit Buttons. Am coolsten sind die, mit im Mülleimer landenden Hakenkreuzen. Peace-Zeichen sind auch nicht schlecht. Auf meinen Reisen erweitere ich im postkolonialen Stil meinen Horizont, indem ich authentisches Leben mit den Locals einer klaustrophobischen Kreuzfahrt vorziehe. Ich gewinne an Weltoffenheit und gelte als besonders unvoreingenommen. Lieb sei ich auch, höre ich häufig. Das schmeichelte mir. Klar möchte ich ein guter Mensch sein, soweit es halt geht. Die extra Anerkennung und Zuneigung, die es dafür gibt, helfen auf jeden Fall, auf dem christlichen Pfad zu bleiben.

Phase 2: Abwehr

Ich diskutiere mit einem Menschen, der mir sehr am Herzen liegt. Für mich geht es um nichts, für Amira* um alles. Thema: Rassismus – für mich ein Problem, das andere haben. Ich kann mich damit beschäftigen, wenn ich möchte, und es nicht mehr tun, wenn ich keinen Bock mehr hab ́. Sie hingegen erlebt das, seit sie sich erinnern kann. Aus der Diskussion wird Streit. Dann Distanz. Ich wurde quasi des Rassismus bezichtigt. Das verletzt mich. Wie kann meine Freundin nur so von mir denken? Von mir – der lieben, weltoffenen, unvoreingenommenen, nächstenliebenden Julia! Alles in mir empört sich. Ich versuche ja eh schon, alles richtig zu machen, bin vegan, geh‘ auf Demos, quäl‘ mich durch Bücher, die mich lang- weilen, um ein besserer Mensch zu werden,… Rassist_ innen sind hakenkreuzschmierende Glatzköpfe oder zumindest FPÖ-Wähler_innen. Ich sehe da keine Parallelen zu mir. Und doch: Eine leichte Ahnung, die meiner Freundin Recht gibt, kratzt an meiner Tür. Mein Selbstbild möchte sich hinterm Spiegel verstecken. Doch es beginnt zu zerbröseln.

Vor dem Civil Rights Movement (der US- amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1950er/60er-Jahren) war es für Weiße noch gesellschaftlich akzeptabel, sich offen als überlegen weil weiß zu outen. Durch die Bewegung änderte sich das. Sie machte die massive Gewalt gegenüber der Schwarzen Bevölkerung sichtbar. Die Bilder schockierten und wurden zum Inbegriff von Rassist_innen. In Deutschland und Österreich wurde Rassismus nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 zum Tabu – so die geläufige Annahme. Wer heutzutage ein guter, moralischer Mensch sein möchte, könne gleichzeitig kein_e Rassist_in sein. Nur schlechte Menschen seien Rassist_innen, heißt es. In ihrem Buch „White Fragility“ nennt Antirassismus-Forscherin Robin DiAngelo das good/bad binary. Dieser Gegensatz bringt Menschen wie mich, die sich gerne als gut und progressiv sehen wollen, in eine verzwickte Lage. Mir rassistische Muster einzugestehen – also ernsthaft einzugestehen –, würde dieser Logik nach bedeuten, ich sei ein schlechter Mensch. Das erklärt auch, warum ich in dem Streit mit meiner Freundin mehr Energie darauf verwendet habe, sie und mein Umfeld davon zu überzeugen, mein Handeln hätte nichts mit Rassismus zu tun, als meine rassistischen Muster zu hinterfragen.

Phase 3 & 4: Scham & Schuld

Doch wovon spreche ich überhaupt, wenn ich Rassismus schreibe? Hakenkreuze reichen jedenfalls nicht aus, um dem Ganzen Gestalt zu verleihen. Gleichzeitig veranschaulichen sie sehr gut, wo es hakt: „Rassismus gilt in Deutschland [und wohl auch in Österreich] als individueller, bewusster Fehltritt der Anderen“, schreibt die Antirassismus-Expertin Tupoka Ogette in „Exit Racism“. Die gängige Meinung sei: Nur wer vorsätzlich etwas tut oder sagt, das rassistisch sein soll, ist auch rassistisch. Für Wirkungen, die nicht beabsichtigt sind, tragen Verursachende keine Verantwortung. (Gute) Intentionen seien das Ausschlaggebende. Das kommt mir bekannt vor. Weniger vertraut bin ich mit der Definition von Rassismus als System. Vielleicht auch weil ein System viel abstrakter ist als eine visuelle Schmiererei an der Wand. (Oder weil ich mich noch nie ernsthaft damit auseinandergesetzt habe.) „Rassismus ist ein System, das mit der Absicht entstanden ist, eine bestimmte Weltordnung herzustellen. Es wurde über Jahrhunderte aufgebaut und ist mächtig“, erklärt die deutsche Journalistin und Autorin Alice Hasters. „Darin wurde die Hierarchie rassifizierter Gruppen festgeschrieben, und die lautet ganz grob so: Weiße ganz oben, Schwarze ganz unten.“

Ogette und Hasters erzählen von rassistischen Erfahrungen, welche sie als Women of Color gemacht haben. Langsam begreife ich das Ausmaß dessen, was es bedeuten kann, in dieser Welt nicht weiß zu sein. Gleichzeitig werde ich es nie nachempfinden können. Immerhin konnte ich mich schon als kleine Julia mit all meinen Puppen, Barbies, Kinderbuchfiguren und Lieblingsschauspielerinnen identifizieren. Den Jolly-Buntstift „Hautfarbe“ fand ich zwar immer eher schiach, irritiert hat er mich aber nie. Ich kenne das Gefühl nicht, Angst vor der Polizei zu haben, weil sie mich für kriminell halten könnte. Vor Wohnungsbesichtigungen putze ich mich nicht extra raus, um einen seriösen Eindruck zu machen. Meine Hautfarbe ist schlichtweg kein Thema für mich. Rassismus ist für mich ein Problem, das andere haben. – Hab‘ ich das etwa gerade gesagt?

Scham und Schuld überkommen mich. Ich erinnere mich an die Situation
zurück, als meine Freundin versucht hat, mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Meine Ignoranz macht mich perplex. Was wäre, wenn meine Freundin Recht hatte und ich rassistisch war? Was, wenn ich rassistisch bin? Das „Wenn“ kann ich mir inzwischen sparen. Langsam check ich’s. Das war ein klassischer Fall von Täter_innen-Opfer-Umkehr. Wie aus dem Bilderbuch. Anstatt mir meinen Fehltritt in der Diskussion einzugestehen, reagierte ich verletzt, weil sie mich des Rassismus bezichtigte. Trost suchte ich bei (weißen) Freund_innen. Und fand ihn. Sie beruhigten mich: „Julia, du bist ein guter Mensch. Stress dich nicht!“ Meine Freundin hätte völlig übertrieben. Mein Selbstbild krümmt sich hinterm Spiegel. Reaktionen wie meine haben häufig die Konsequenz, dass People of Color es gänzlich vermeiden, Weiße auf rassistisches Verhalten hinzuweisen. Denn wozu auch, wenn’s danach so weitergeht?! „Es liegt in der Verantwortung der Weißen, weniger zerbrechlich zu sein“, so DiAngelo. Macht absolut Sinn. Und ist gleichzeitig sehr unangenehm. Um weniger zerbrechlich zu werden, muss es erst mal richtig wehtun, merke ich. Politisches Detox. Ich durchforsche mein Selbst nach Denkmustern und Gedanken, die ich loswerden möchte. Das befördert ziemlich viel Shit an die Oberfläche. Aua.

Phase 5: Anerkennung

„Ich liebe Lateinamerika. Weil alles Musik ist und alle tanzen und das Leben feiern. Obwohl das Leben so hart zu ihnen ist, oder gerade weil es so ist.“ (Tagebucheintrag, Kolumbien 2015) Was erstmal wie der gut gemeinte, poetisch angehauchte Gedankenerguss einer jungen Backpackerin wirkt, entpuppt sich recht schnell als glattes Vorurteil. (Lateinamerika ist ein Kontinent mit 654 Millionen Einwohner_innen.) Etwas schwerer zu erkennen, ist der rassistische Gehalt des Eintrags. Erst Vorurteil plus Macht ergeben Rassismus. Genauer bedeutet das laut DiAngelo: „Wenn die kollektiven Vorurteile einer Gruppe durch die Macht der rechtlichen Autorität und der institutionellen Kontrolle gestützt werden, verwandeln sie sich in Rassismus.“ Langsam wird es für mich etwas greifbarer, dieses ominöse System, das anscheinend allem zugrunde liegt. „Rassismus ist schon so lang und so massiv in unserer Geschichte, unserer Kultur und unserer Sprache verankert, hat unsere Weltsicht so sehr geprägt, dass wir gar nicht anders können, als in unserer heutigen Weltsicht rassistische Denkmuster zu entwickeln“, ergänzt Hasters. Und so komme ich zum Knackpunkt des Ganzen: Als weiße Person, die in dieser leider zutiefst rassistischen Welt sozialisiert wurde, stellt sich nicht die Frage, ob ich rassistisch bin. Denn das bin ich. Ich wurde rassistisch sozialisiert. Ich bin durch mein Weißsein strukturell im Vorteil und habe Vorurteile. Manche sind mir bewusst, andere weniger. Und dann gibt es noch jene, die ich im Keim ersticken möchte. (Ich muss wieder an den Schwarzen Mann zu Weihnachten vom Anfang dieses Textes denken. Scham- und Schuldgefühl haben etwas abgenommen.) Die Frage lautet also nicht, ob, sondern wie äußert sich rassistisches Verhalten bei mir? Diese Frage habe ich mir davor nie ernsthaft gestellt. Im Gegenteil: Als ich vor 15 Jahren in Peru als weiße Frau in der andinen Stadt Huancayo mit Blumen überhäuft und um Gruppenfotos gebeten wurde, benannte ich das auch mal lockerflockig als (positiven) Rassismus. Ich warf diese Sonderbehandlung in den gleichen Topf, aus welchem Menschen verbal schöpfen müssen, die brutaler Polizeigewalt ausgeliefert sind, weil sie aufgrund ihrer vermeintlichen Hautfarbe verdächtig wirken.

Darüber hinaus war ich es nicht gewohnt, mich mit meinem eigenen Weißsein zu beschäftigen. Ich las eben „Onkel Toms Hütte“ und weinte dabei. Das Problem ist: Solange wir an der good/bad binary festhalten und Rassismus als ein Vergehen von Rechtsextremen betrachten, drängen wir den Diskurs an den Rand der Gesellschaft. Wir überlassen ihn Parteien, die damit (zu Nicht-Corona-Zeiten) in Bierzelten Stimmung für sich machen, während wir über sie lachen oder weinen. Oder beides. Aber keinesfalls eine Verbindung zu uns sehen. Rassismus bleibt so der Sprung in der Schallplatte. Erst wenn wir bei uns selbst anfangen, können wir uns vom Fleck bewegen. Der reine Appell an die Menschlichkeit löst leider nicht die gegebenen menschenunwürdigen Struktu- ren auf. Vielmehr lullt er mich behaglich in ein flauschiges Gefühl von Ich-tun-eh-schon-genug ein. „Ich glaube, dass weiße Progressive People of Color den meisten täglichen Schaden zufügen“, sagt DiAngelo. „Ich definiere weiße Progressive als weiße Personen, die denken, sie seien nicht rassistisch. Weiße Progressive können für People of Color am schwierigsten sein, da wir dadurch, dass wir glauben, angekommen zu sein, unsere Energie dafür einsetzen, sicherzustellen, dass andere uns als angekommen sehen. Keine unserer Energien wird in das fließen, was wir für den Rest unseres Lebens tun müssen: uns auf kontinuierliches Selbstbewusstwerden und tatsächliche antirassistische Praxis einzulassen.“

Wenn ich jetzt an das Paar im Weihnachtssaal zurückdenke, schäme ich mich immer noch ein wenig für meine vergeblich verdrängten Vorurteile. Gleichzeitig weiß ich, dass mir diese nicht in die Wiege gelegt wurden. Sie entstanden durch meine Sozialisation als Weiße in einer auf Rassismus basierten Welt. Sie gediehen, während ich nicht hinsah und es schön flauschig hatte. Meine Rassismen sind das Unkraut unter meiner vorbildlichen Veranda. Den Nährboden dafür konnte ich mir nicht aussuchen. Und das birgt eine gewisse Versuchung: Ich kann doch nichts dafür, dass ich 1990 in Österreich als privilegiertes Kind geboren wurde, es mir somit besser geht als dem Rest der Welt und vor meiner Geburt zu viele kolonialistische Verbrechen passiert sind. Mmmmhhhh, wie flauschig-bequem es doch wäre, sich in der Opfer-meiner-Umstände-Rolle auszuruhen … Doch mein Selbstbild kommt hinterm Spiegel hervorgekrochen und richtet sich auf. Scham und Schuld legt es großteils ab. Halb nackerpatzlt sucht es seine Reflexion und checkt ab, was es noch trägt: Verantwortung. Und außerdem: eine Menge Privilegien. Beides kann ich einsetzen. Nicht um jenen, die von Rassismus betroffen sind, zu helfen, sondern weil ich mir eine Welt wünsche, die frei von Diskriminierung ist. Ich kann mein Bestes tun. Ankommen werd‘ ich trotzdem nie. Und das ist gut so.

*Name von der Redaktion geändert

JULIA REITER ist überrascht, wie wenig Bewusstsein sie bisher für das Thema „Rassismus“ hatte

DAS PHASEN-MODELL wurde aus Tupoka Ogettes Buch „Exit Racism“ übernommen und beschreibt den Prozess, den Mensch im Umgang mit dem eigenen Rassismus durchlaufen kann. Die Reihenfolge der Phasen kann variieren bzw. hin- und herswitchen.

DIE GOOD/BAD BINARY ist ein nach der Bürgerrechtsbewegung entstandenes Konzept, das besagt, dass es sich gegenseitig ausschließt, ein guter und ein rassistischer Mensch zu sein. Rassismus beschränkt sich dabei auf schlechte Menschen: typischerweise ignorant, voreingenommen, böswillig, alt und aus den Südstaaten (USA).

SCHWARZ ist eine Selbstbezeichnung. Bei dem Begriff geht es nicht um die Beschreibung einer tatsächlichen Hautfarbe, sondern um eine politische Kategorie. Um dies zu betonen, schreiben wir Schwarz auch als Adjektiv groß.

WEISS beschreibt ebenso wie Schwarz keine messbare Hautpigmentierung, sondern eine soziale Zugehörigkeit. Gemeint ist: ein Mensch, der aufgrund seines Aussehens im Alltag eher keine Rassismuserfahrungen macht. Daher unterstreichen wir weiß.

PEOPLE OF COLOR ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismuserfahrungen machen. Alternativ gibt es auch die Bezeichnung BIPoC (Black, Indigenous, People of Color), die etwas umfassender ist.