Text: Bernadette Weber
Fotos: Uriel Montufar Butron

„Entschuldigt die Störung, aber ihr tötet uns“

In Puno, am Ufer des Titicacasees, widmen sich Dina, Maritza und ihr Team tagtäglich der Verteidigung von Menschenrechten. Das bedeutet, den Menschen zu erklären, was ihre Rechte sind, und im Gerichtssaal für sie zu kämpfen. In den meisten Fällen sind diese Menschen Frauen. Denn in Puno ist es oft gefährlich, Frau zu sein – so sehr wie in keiner anderen Region Perus.

In Lateinamerika bewegt sich etwas. Frauen gehen auf die Straße, vereint, mit erhobenen Schildern und Bannern, auf denen steht „Wir wollen uns selbst lebend“. Und: „Entschuldigt die Störung, aber ihr tötet uns!“ Es sind keine Einzelgängerinnen. Es sind immer größer werdende Bewegungen, Organisationen und Netzwerke wie Ni una menos („Nicht eine weniger“) und Un violador en tu camino („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“), deren Aktivismus auch in europäischen Medien bekannt wurde. Vereint kämpfen sie gegen Feminicidio. Femizid – auf Deutsch: Frauentötung – ist wenn Frauen sterben müssen, weil sie Frauen sind. Weil sie, aufgrund ihres Geschlechts, eine Rolle in Beziehungen und in der Gesellschaft einnehmen, in denen ihre alltäglichen Handlungen und menschlichen „Fehltritte“ oft mit Gewalt bestraft werden. Gewalt, die zum Tod führt. Durch die Hand von Personen, die in vielen Fällen ihre Väter, Brüder und Lebensgefährten sind.

Dina und Maritza kennen den Begriff Femizid sehr gut. Vor allem aber wissen sie, was er auf praktischer Ebene bedeutet. Die beiden jungen Frauen leben in Puno, auf 4.000 Metern Seehöhe, in einer Region voller Gegensätze, wo der endlos blaue Titicacasee das intensive Sonnenlicht kalt abblitzen lässt. Wo bunte Gewänder die karge Berglandschaft ausgleichen. Wo Offenheit und Freundlichkeit auf hartes Klima und ebenso harte Lebensbedingungen stoßen. Eine Region, welche die „gefährlichste Stadt Perus“ beherbergt: Juliaca. Hier, in ihrer Heimatstadt, in der im letzten Jahr die Femizidfälle wieder gestiegen sind und die landesweit, im Bezug auf ihre Einwohner_innenzahl, die meisten Fälle verzeichnet, kämpfen sie tagtäglich für Veränderung und Menschenrechte.

Dina ist 32 Jahre alt. Maritza ist 37. Beide arbeiten für Federh – Fe y derechos humanos („Glaube und Menschenrechte“), eine kleine Organisation in Puno, die seit ihrer Neugründung und Emanzipation von der kirchlich-institutionellen Kontrolle im Jahr 2002 von großen Geldgeber_innen unabhängig geblieben ist. Diese Ungebundenheit erlaubt es ihnen, eine Anlaufstelle für alle Menschen zu sein, unabhängig von der Art ihrer Probleme und ihrer Religionszugehörigkeit. „Wir sind hier, um für das Gemeinwohl zu kämpfen. Bestimmt nicht aus finanziellen Gründen, sonst wären wir, glaube ich, alle schon gegangen“, erzählt Dina und lacht. „Unsere Motivation ist etwas sehr Persönliches. Ein Gemeinschaftsprojekt, in das wir alle verwickelt sind.“ Die Menschenrechte, die von Federh verteidigt werden, betreffen in den meisten Fällen Frauen. Das Ziel ist, Gewalt gegen sie zu reduzieren und ihnen Freiheit zu geben, damit sie sich als Menschen individuell entfalten können, ohne Angst vor den Konsequenzen haben zu müssen.

Während die erhobenen Stimmen und Banner von Ni una menos vor allem die Regierungen Lateinamerikas dazu aufrufen, Verantwortung zu übernehmen, glaubt das Team Federhs fest daran, dass auch von einer kleinen Gruppe von Menschen ausgehend auf kultureller Ebene etwas verändert werden kann. Denn, so sind sich Dina und Maritza einig: Es geht hier um ein kulturelles Problem. Und unsere Kultur gestalten, erfinden und verändern wir alle gemeinsam. „In Puno herrscht eine Ungleichheit zwischen Mann und Frau. Der Machismo ist hier ein vorwiegendes Problem“, erzählt Maritza. Edwin, der Direktor Federhs, der mit seiner positiven Energie und fröhlichen Art die beiden Büros zusammenhält, berichtet: „Eine Frau hat mir einmal erzählt, dass ihr Mann sie schlägt. Wirklich schlimm daran war, dass sie es erzählte, als wäre es etwas ganz Normales. Sie meinte, es wäre gut so, denn ihr Mann würde sie ‚korrigieren’. Ich habe daraufhin ihren Mann gefragt: ‚Und wer korrigiert dich?’“

Die Normalität, dass Frauen weniger wert seien als Männer, ist in Puno, so erzählen Dina, Maritza und Edwin, auf vielen Ebenen sichtbar: Frauen gehen auf der Straße meist hinter
ihren Männern. Sie bitten oft um Erlaubnis, sprechen zu dürfen. Die Geburt eines männlichen Nachfolgers wird gefeiert, die eines Mädchens als Bürde betrachtet. In dieser Kultur, die in und von den einzelnen Familien gelebt wird, ist auch die Gewalt gegen Frauen – die oft ein Todesurteil für sie bedeutet – etwas relativ Normales. Etwas, das immer schon so war und darum gerechtfertigt ist. Kinder hier wachsen mit dieser Ungleichheit auf. Sollte dieses Bild nicht geändert werden, wird es irgendwann an die folgende Generation weitergegeben. „Besonders verheerend ist es in ländlichen Gebieten. In den Städten sind die Frauen gebildeter. Das heißt nicht, dass es in der Stadt keine Gewalt gibt, aber die Frauen sind sich des Problems öfter bewusst, und das ist bereits ein Anfang“, kommentiert Dina.
Damit es erst gar nicht zu Gerichtsprozessen kommen muss, in denen Frauen idealerweise für die erlittene Gewalt entschädigt werden, liegt für Dina und Maritza der wichtigste Aspekt ihrer Arbeit in der Bewusstseinsschaffung sowie in der Erziehung zu Friede und Respekt. „Unser Ziel ist es, Frauen ihre Rechte zu vermitteln, da ihnen meist gar nicht bewusst ist, dass sie die gleichen Rechte wie Männer haben“, erklärt Maritza. „Es geht vor allem auch darum, ihr Selbstwertgefühl zu stärken, damit sie Entscheidungen für sich selbst treffen können. Wer Gewalt erlitten hat, hat wenig Selbstwertgefühl. Wir müssen ihnen vermitteln, dass sie einzigartig und wertvoll sind. Wir brauchen demokratische und empathische Frauen, die in der Lage sind, auch anderenFrauen zu helfen.“

Die öffentlichen Workshops und Veranstaltungen ermöglichen oft die erste Begegnung zwischen Federh und Menschen, die Hilfe und konkret Rechtsvertretung brauchen. Oft dauert es jedoch lange, bis sie den Mut fassen, mit Dina und Maritza über ihre Lage zu sprechen. „Angst und Scham sind ein überwiegendes Problem“, erzählt Maritza. Für Dina und Maritza ist es wichtig, dass sich die Menschen darüber bewusst sind, wie lange und kraftraubend tatsächliche Gerichtsprozesse sind. Die Entscheidung zu einer Anzeige muss daher ausdrücklich und mit Klarheit erfolgen. Wenn es schließlich so weit kommt, werden viele davon dennoch oft abgebrochen, aus Angst vor den Familien und den Konsequenzen einerseits, aber auch weil manche Fälle im korrupten Familiengericht einfach so verschwinden.

Dina und Maritza glauben fest daran, dass etwas verändert werden kann und auch schon bewegt wurde. „Irgendjemanden erreichen wir immer. Mit einem kleinen Anstoß leisten wir einen Beitrag zur Reflexion“, ist sich Maritza sicher. „Für die Menschenrechte zu kämpfen, bedeutet vor allem, konkret etwas zu tun und die Menschen aus nächster Nähe zu begleiten“, fügt Dina hinzu. Sie betont zudem die Wichtigkeit der Vernetzungen mit anderen Organisationen und Initiativen, sowohl national als auch international. Die Kraft, die gemeinschaftlich zur Veränderung von Systemen aufgebracht wird, beginnt eben oft schon in ganz kleinem Kreise. So wie bei Federh in Puno.