Fotos: Peter Pataki
Interview: Lilli Schuch

„Ich züchte Gehirne“

Charlotte Ohonin ist knapp über 30 und hat mit ihrem Team bereits ein Gerät erfunden, mit dem man neurologische Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson erforschen und nachahmen kann. Ganz ohne den Körper der Patient_innen zu berühren. Eigentlich züchtet sie gar Gehirne. Wie bitte? Lilli Schuch im Gespräch mit einer beeindruckenden Forscherin.

Es gibt Nächte, in denen man glaubt, Graz wäre eine Weltstadt. Wie Berlin oder London. Beim Musikprotokoll 2020 gastiert das „Radio Symphonie Orchester Wien“ erstmals mit seiner neuen Chefdirigentin Marin Alsop in Graz. Alles unter lästigen, aber notwendigen Covid-Maßnahmen.
Ich bin in der großen, sterilen Helmut- List-Halle und mache eine spontane Bekanntschaft über eine gemeinsame Freundin names Lana, die an diesem Abend Cello spielt. Die Bekanntschaft heißt Charlotte Ohonin und ist, genauso wie ich, zum Konzert eingeladen. Während ich mit Zuversicht in den Abend gehe, weil ich schon weiß, dass die zeitgenössische Klassik nicht ohne ist, kommt Charlotte mit einem strahlenden Gesicht und möchte sich einfach überraschen lassen.
Ob sie auch eine Musikerin ist, frage ich Charlotte – kurz vor dem Einlass; wissend, dass bei solchen komplizierten Konzerten meistens Kolleg_innen oder Musikstudent_ innen im Publikum sitzen. Nein, gar nicht. Sie sei keine Musikerin. Sie sei eine Forscherin. Was sie forsche, frage ich. Das genauer zu erzählen, gehe sich vor Konzertbeginn nicht mehr aus, antwortet sie. Nur knapp sagt sie, wieder mit einem breiten, freundlichen Lachen, das ganz im Gegensatz zu dieser halbleeren, kalten Halle und dieser komischen Covid-Stimmung steht: „Ich züchte Gehirne!“
In der Pause erfahre ich mehr: Charlotte Ohonin, Charly genannt, ist eine Molekularbiologin, keine gute Studentin, aber dafür eine gute Forscherin. Sie hat schon ihre eigene Firma, das Start-Up Norganoid, und sie hat mit ihrem Team ein Gerät erfunden, mit dem man viele neurologische Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson erforschen und nachahmen kann, ohne den Körper der Patient_innen zu berühren. Dieses Gerät ist sogar schon patentiert. Wie bitte? Nach dem Konzert lädt Charlotte uns spontan zu sich nach Hause ein. Und ich frage nach.

Charly, sag uns bitte, was du ganz genau machst?

Ich arbeite mit Stammzellen, den Urzellen, aus denen der Körper entsteht. Heute kann man sogar aus Blutzellen oder Urinzellen Stammzellen herstellen. Aus den Stammzellen züchte ich dann organähnliche Strukturen, die man auch Organoide nennt. Derzeit liegt unser Fokus vor allem beim Gehirn. Dieses besondere Interesse stammt aus meinen vorherigen Arbeiten und meiner Begeisterung für das komplizierteste Organ des Körpers.

Du kommst aus der Stammzellenforschung, betonst du immer. Die Stammzellen sind gewissermaßen deine „Sandkiste‟. Aus dieser Kiste hast du dann dein Gehirn-Organoid „gezaubert“. Wie ist das möglich? Bitte erzähl uns Laien darüber ganz simpel: Was genau ist bitte ein Gehirn-Organoid?

Gewebe zu züchten, kann man sich vorstellen wie „Malen nach Zahlen“ oder Kochen nach Rezept. Für die verschiedenen Gewebearten des Körpers gibt es genaue Abfolgen von Zutaten, die man unter Berücksichtigung von bestimmten Bedingungen und in zeitlicher Abfolge miteinander vermengt. Die Stammzellen sind die Hauptzutaten, so wie das Mehl bei Nudeln. Ein Gehirn-Organoid ist nichts mehr als ein Stammzellhaufen, der mit den richtigen Stoffen versorgt wird und sich zu einem Gehirn-ähnlichen Konstrukt entwickelt. Hierbei werden die Entwicklungsstufen in der Entstehung des Gehirns, wie im Laufe einer Schwangerschaft, durchlaufen und auch der architektonische Aufbau dieses Organs widergespiegelt. Die Gehirn-Organoide sind eine große Bereicherung, nicht nur für die Erforschung der Entwicklung des Gehirns, sondern auch zum Studieren von Krankheiten.

Du hast dann ein Mini-Gehirn auf einem C hip h ergestellt. „ Wir e ntwickeln das ‚Nano-Lab-On-A-Chip‘ – eine optimierte Plattform des Organ-On-A-Chip‘ – zur Züchtung von Gehirn-Organoiden“, heißt es dazu in deinem Norganoid-Portfolio. Und was passiert dann? Kann man mit so einem Chip die Gehirnerkrankungen – Alzheimer, Parkinson oder die Epilepsie – besser nachvollziehen? Oder sogar heilen?

Das Gerät, das wir entwickeln, ist für die vereinfachte Herstellung von Organoiden gedacht. Man kann es vielleicht mit einer Nudelmaschine vergleichen, anstelle der Hand oder dem Messer. Die Organoide machen den Rest eh von selbst. Sie sind auch das Spiegelbild einer Krankheit wie Alzheimer, wenn man Stammzellen verwendet, die vorher Zellen von einer kranken Person waren. Man nutzt die Organoide dann, um Medikamente zu testen. Man erhöht damit die Erfolgschancen von solchen therapeutischen Präparaten, weil man sie schon sehr früh an einem menschlichen Model testen kann. Natürlich sind Gehirnerkrankungen sehr komplexe Vorränge, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede man zunächst besser verstehen muss. Dafür sind die menschlichen Organoide sehr gut geeignet. Im Falle von Alzheimer z. B. ist es nicht möglich, die Krankheit zu stoppen, wenn sie einmal ausgebrochen ist. Jedoch können bis zu 20 Jahre zwischen der Diagnose und dem Ausbruch liegen. Diese Zeit kann man aber sehr gut nutzen um mit Hilfe von Gehirn-Organoiden wirksame Therapien zu suchen, damit man den Ausbruch der Krankheit verzögern bzw. vorbeugen kann. Das ist eine besondere Chance, die man meiner Meinung nach nutzen muss.

Du sagst immer wieder, dass die Stammzellen ein „genetisches Gedächtnis haben“. Was meinst du damit genau?

Das Geheimnis nennt sich „Epigenetik“, was beschreibt, dass alle unsere Körperzellen wichtige Ereignisse, die sie im Alltag erleben, abspeichern, und zwar genau dort, wo sich auch alle genetischen Informationen der Zelle befinden: in der DNA. Krankheit wie Alzheimer oder Parkinson tragen zu den Veränderungen der genetischen Information bei. Macht man nun aus einer kranken Körperzelle eine Stammzelle, werden diese „kranken Daten“ mitüberliefert, auch dann, wenn man aus den gewonnenen Stammzellen Organoide züchtet.

Das ist also diese mächtige Epigenetik. Die Zellen merken sich, wie sich eine Krankheit ausgebreitet hat und was sie einem Menschen antut. Die Organoide aus den Stammzellen können dann den Krankheitsverlauf nachmachen, imitieren. Habe ich das richtig verstanden?

Ich denke, ja!

Du kritisierst immer wieder die Pharmaindustrie, die so viele Experimente an Tieren durchführt. Deine Forschung geht in eine andere Richtung – menschliches Gewebe wird künstlich produziert, damit die Pharmaindustrie die Tiere in Ruhe lässt. Bitte, was meinst du, wenn du sagst, dass du menschliches Gewebe produzierst? Funktioniert das wieder mit dem Zauberstab namens Stammzellen?

Richtig. Nach dem gleichen Prinzip, wie bereits beschrieben. In der Herstellung von Medikamenten braucht man große Mengen an Testmaterialien und Testobjekten, hauptsächlich sind dies Tiere in vorklinischen Studien. Mit dem System, das wir entwickeln, kann man den Bedarf an Tierversuchen reduzieren und als Testobjekte Organoide, auch in großen Mengen, herstellen und verwenden. Das bringt natürlich den Vorteil mit sich, dass sie auch tatsächlich menschliche Krankheiten darstellen und die Erfolgschancen von Medikamenten erhöhen. Wenn man die Metapher Nudelmaschine wieder hernimmt, verwendet man halt nicht nur ein Gerät, sondern am besten gleich ganze Räume voll mit diesen Maschinen. Es gibt nun mal viele Nudelesser auf der Welt, so gibt es auch Millionen von Menschen, die von Gehirnerkrankungen betroffen sind, wo derzeit keine wirksamen Therapien existieren.

Aber du gehst noch weiter: Du erzählst von Miniorganen, wie Leber oder Nieren, die wir in ca. 20 Jahren auf den Plastikchips haben werden. Dann könnte man, so meinst du, die Wirkung und Nebenwirkung von verschiedenen Präparaten auf diesen Chips beschreiben und beobachten. Habe ich das richtig verstanden?

Die Wirkung und Nebenwirkung von Präparaten kann man jetzt schon mit diesen Mini-Organen auf den Chips simulieren. Das macht sie so wertvoll. Ich denke, in 20-30 Jahren wird die Technologie noch ausgereifter sein, aus dem ganzen Wissen heraus, das wir jetzt generieren. Organe aus dem Labor sind schon lange keine Zukunftsmusik mehr.

Noch eine Frage: Die sogenannte „personalisierte Medizin“ ist in aller Munde. Was genau ist damit gemeint?

Personalisierte Medizin wird heute in verschiedenen Bereichen und in Einzelfällen schon angewandt, wie z. B. der Gentherapie. Sie ist jedoch sehr teuer. Man kommt immer mehr darauf, dass Menschen und ihre Körper genauso divers und individuell sind wie die dazugehörigen Charaktere. Der Gedanke stimmt auch überein mit der Tatsache, dass Medikamente nicht bei jedem gleich anschlagen oder große Unterschiede in den Nebenwirkungen zeigen. Personalisierte Medizin bedeutet demnach maßgeschneiderte Therapie für das einzelne Individuum, auch unter Beachtung von Genetik und Epigenetik.

Glaubst du wirklich, dass wir in 20 bis 30 Jahren so eine Medizin haben werden mit maßgeschneiderten Medikamenten?

Ich denke das ist sehr gut möglich, den Weg hierfür hat man bereits beschritten.

Forschung ist sehr teuer. Wie finanzierst du das alles?

Das ist eine berechtigte Frage. Begonnen habe ich mit dem Geld aus diversen Nebenjobs, inklusive Kellnern, Kindersitting, persönliche Assistenz und Nachhilfe. Hinzu kommen kleinere Kredite, auch vom Science Park Graz. Ob man es glaubt oder nicht, die größte Unterstützung bekomme ich von Freund_innen. Ohne sie wären wir mit unserem Projekt immer noch auf halben Weg. Auch meine Familie unterstützt mich so gut sie kann. Endlich, nach unzähligen Tassen Kaffee, Schlafmangel, Höhen und Tiefen haben wir nun unsere erste Förderung durch die EU bekommen. Nun arbeitet es sich für ein paar Monate leichter. Natürlich reichen wir weiterhin Anträge für nationale und internationale Förderungen ein, werden aber auf langer Sicht private Investoren benötigen. Charlotte hat für uns alle ein wunderbares vegetarisches Mitternachtsdinner gezaubert – Chicorée-Salat, überbackenes Gemüse mit Käse und Eiern garniert, dazu Wein und Bier – während sie strahlend auf meine gerissenen und unsicheren Fragen antwortet. Am Ende bin ich ganz baff. Zum einem habe ich Achtung vor so einer zukunftsträchtigen Wissenschaft, die wirklich viel verspricht und von der ich gar keine Ahnung habe, zum anderen habe ich größten Respekt vor einer so jungen Frau (33), die so mutig und entschlossen ist, allen Widrigkeiten trotzt, und einfach tagtäglich Gehirne züchtet, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Graz ist eben ab und zu wirklich eine Weltstadt: zumindest dann, wenn man einer Frau wie Charly begegnet.

L I L L I  S C H U C H hat es aus Zagreb nach Graz verschlagen. Auch, weil Graz eben manchmal eine Weltstadt ist.