Interview: Julia Reiter
Fotos: Thomas Raggam

„Kreativität ist das Unbegrenzte im begrenzten Raum“

Der Musikkabarettist Jörg-Martin Willnauer hat zehn Jahre lang Kreativität in der Caritas-Schule für Sozialberufe versprüht. Zum Abschied teilt er Einblicke in seinen Unterricht und lädt dazu ein, unsere Kreativität neu zu entdecken.

Julia Reiter: Die meisten kennen dich als Musikkabarettist. Was die wenigsten wissen: Du arbeitest seit Jahren auch als Lehrer. Wie nennt sich denn dein Fach?
Jörg-Martin Willnauer: AKRA. Damit ist aber nicht die Krähe gemeint (lacht), sondern Aktivierung und kreativer Ausdruck. Mein Fokus liegt darauf, diese bunte Gruppe aus Schüler:innen aus der ganzen Welt daran zu erinnern, dass sie Kreativität haben – auch wenn diese nicht zur Entfaltung gekommen ist oder in der Kindheit da war und später verschüttet worden ist. Ich meine damit weniger die Fähigkeit, ein Buch zu schreiben oder ein Bild zu malen. Mir geht es vor allem darum, die Menschen in ihrer persönlichen, alltäglichen Kreativität zu bestärken.

Deine Klasse besteht aus Menschen aus aller Welt. Wie wirkt sich das auf kreative Prozesse aus?
Das ist eine gute Voraussetzung. Wenn alle in der Gruppe dieselbe Mama, womöglich noch den gleichen Papa und die gleiche Religion haben, im selben Dorf aufgewachsen und in dieselbe Schule gegangen sind, ist das keine gute Voraussetzung für Kreativität. Je vielfältiger die Gruppe, desto besser für Kreativität. Unsere Schüler:innen kommen nicht nur aus unterschiedlichen Erdteilen, sondern haben auch unterschiedliche Bildungshintergründe. Manche haben die Pflichtschule, manche ein Studium, manche sind 18, manche 50plus. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist nicht so einfach. Deswegen gibt es auch verschiedene Angebote und Regeln.

Möchtest du eine konkrete Erfahrung aus dem Unterricht teilen?
Ganz am Anfang des Unterrichts frage ich: Wer hält sich für kreativ? Da melden sich zwei, drei, weil sie Angst haben auf die Bühne gezerrt zu werden. Ich behaupte dann, ohne sie zu kennen, dass sie alle kreativ sind, und beweise ihnen das auch. Zum Beispiel wie sie sich kleiden, ihre Frisur – da haben die meisten mehr Möglichkeit als ich (lacht) – das Kochen, … In einem Punkt zumindest sind alle kreativ: bei den Ausreden! Sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. Viele glauben, Kreativität gibt es nur im Theater, im Fernsehen usw., aber Kreativität ist viel mehr. Sie ist urmenschlich. Ohne die Kreativität unserer Vorfahren, die z.B. aus einem Knochenstück eine Nadel entwickelt haben, wären wir gar nicht da. Auch die Kindheit ist eine hochkreative Angelegenheit. Kinder können beim Spielen alles um sich herum vergessen, kommen in ihren eigenen Flow und erschaffen eigene Welten. In der Schule wird das dann häufig verschüttet, weil Fragen beantwortet werden müssen, die nicht gestellt wurden, und jene Fragen, die junge Leute haben, nicht beantwortet werden.

Unser Schulsystem ist auch noch stark durch die Industrialisierung geprägt. Alles wird punktgenau getaktet, es herrscht eine gewissen Fließbandmentalität. Wie sollte denn Schule aussehen, die darauf ausgerichtet ist, Kreativität zu fördern?
Bei uns im Unterricht sitzen wir z.B. im Kreis. Das hat den großen Vorteil, dass alle auf Augenhöhe sind und dass sich eine Gruppe bildet. Wenn alle militärisch in der klassischen alten Schulordnung sitzen, haben die ganz hinten mit denen ganz vorne nichts zu tun und umgekehrt. Diejenigen, die sonst in der letzten Reihe sitzen, können im Kreis auch nicht einschlafen (lacht). Und ein weiterer Vorteil: Ich als Vortragender werde so nicht zum Dompteur. Der Kreis ist viel älter als die militärische Sitzordnung. Er hat sich vor hunderttausenden von Jahren ums Lagerfeuer gebildet. Dort sind Sprache, Lüge und das Jägerlatein entstanden. Der Kreis ist eine urmenschliche Institution. Neben dem Kreis sind auch Vielfalt, Achtsamkeit und Respekt gute Voraussetzungen. Alle Anwesenden verdienen es, gehört zu werden. Alles wird notiert, nichts wird negativ kommentiert.

Du siehst die Vielfalt in deiner Klasse also als Potential. Ist das auch auf unsere Gesellschaft übertragbar?
Ich denke, Mehrsprachigkeit ist auf der Welt viel verbreiteter, als wir glauben. Ein Blick auf die Landkarte in Afrika zeigt oft schnurgerade Grenzen über tausende von Kilometern hinweg. Sie schneiden durch viele Kulturen. In Nigeria gibt es mehr als 500 Sprachen. Viele Menschen wachsen zweisprachig auf. Daraus können unterschiedliche Bilder entstehen, vorausgesetzt die Gruppe respektiert die Unterschiedlichkeit. Aus unterschiedlichen Lebenserfahrungen können unterschiedliche Vorschläge und Lösungsansätze entspringen.

Unser Leben ist teilweise schon sehr durchreglementiert. Ich merke, wie schwer ich mir oft tue, dennoch „outside the box“ bzw. kreativ zu denken. Glaubst du, ist das in einem neoliberalen, kapitalistischen System überhaupt erwünscht?
Der Druck hat sich enorm verstärkt. Viele Dinge werden inzwischen maschinell produziert, aber im Dienstleistungsbereich macht heute oft eine Person das, was vor 30 Jahren zwei oder drei Leute gemacht haben. Auch im Bildungsbereich ist der Druck enorm gestiegen. Und das verringert unseren Spielraum. Das ist schade. Ich bin froh, dass es diese Oase in der Caritas-Schule gibt. Ich könnte natürlich auch sagen, „okay, das System ist so beschissen, ich darf nicht mehr kreativ sein“, aber ich kann auch schauen, dass ich mir Oasen suche. Am Fließband oder im Schichtbetrieb ist das wahrscheinlich nicht möglich. Da gibt es kaum Raum für Kreativität. Aber ich denke, so wie das System jetzt ist, muss es ja nicht bleiben. Der Kapitalismus ist kein Naturgesetz. Es wurde von Menschen gemacht und hat irgendwann eine Eigendynamik entwickelt. Die fällt uns und vor allem der nächsten Generation auf den Kopf. Denn natürlich sind inzwischen bereits viele Grenzen erreicht. Kreativität ist das Unbegrenzte im begrenzten Raum. Wir haben auf jeden Fall schon noch Möglichkeiten, unsere Kreativität zu entfalten.

Hast du konkrete Tipps, wie unsere Leser:innen ihre Kreativität entfalten können?
Wir erinnern uns an unsere Kindheit. Die meisten durften in der Kindheit spielen. Natürlich nicht alle, es gibt Millionen von Kindern, die ab dem Alter von drei, vier Jahren arbeiten müssen. Aber wir hatten das Privileg, spielen zu dürfen. Wir erinnern uns an die Spiele, die wir gespielt, und an die Lieder, die wir gehört haben. Diese Erinnerungen an die Kindheit können uns beweisen, dass wir kreativ waren. Das ist der erste Schritt.
Der zweite Schritt: Wir streichen den Begriff „alternativlos“, nicht nur in Bezug auf den Kapitalismus, sondern auch auf unser eigenes kleines Reich. Es gibt oft viel mehr Möglichkeiten, als wir glauben, und wir sind oft viel zu stark fokussiert auf das, was nicht geht, anstatt ein bisschen mehr darauf zu schauen, was sonst noch möglich ist.
Dann gibt es noch die Möglichkeit, aufzuschreiben. Eine Frage, die sich alle stellen: Should I stay or should I go? (Soll ich bleiben oder soll ich gehen?) Diese kann ich z.B. auf ein riesiges Flipchartpapier schreiben und alles draufschreiben, was mir dazu einfällt – aber nicht untereinander, sondern kreuz und quer. Somit wird nicht priorisiert. Keine Gedankenpolizei! Je besser es uns gelingt, die Schere aus dem Kopf zu schmeißen, die sich denkt, „das kann ich nicht sagen/tun“, umso besser werden die Ergebnisse. Wir müssen die Idee und die Bewertung auseinanderhalten. Wenn wir bei der Idee schon bewerten, ist das, wie mit angezogener Handbremse Auto zu fahren. Wir fahren zwar irgendwie, aber nicht gut. Je ehrlicher und gnadenloser ich bin, umso besser wird das Ergebnis sein.

Du sagst, dass wir möglichst wenig bewerten sollen. Gleichzeitig ist Bewertung ein sehr vielverwendetes Instrument in unserer Erziehung. Benotest du deine Schüler:innen?
Wir müssen Noten geben. Ich würde es lieber anders machen, aber das geht aus gesetzlichen Gründen nicht. Ich sage immer am Anfang: Wer da ist, kann nicht durchfallen. Ob die Leute nur ihren Körper parken, kontrolliere ich nicht (lacht). Aber wir haben auch das Glück, keine Prüfung machen zu müssen. Ich könnte zwar prüfen, aber ich versuche eher, die wenigen Stunden, die wir haben, zu nutzen, um den Leuten die Angst zu nehmen.
In der Pflege oder in Jus ist das anders. Da muss ich bestimmte Dinge können, das muss auch abgefragt werden. Aber für die Kreativität ist die Note wahrscheinlich eher ein Gift. Viele haben die Freude am Zeichnen verloren, weil es hieß: „Das kannst du nicht, die Perspektive ist falsch.“ Aber bei Kreativität geht es ja um die Subjektivität. Eine weitere Regel: Wir dürfen uns nicht vergleichen. Und auch unsere Kinder nicht. Wir sind zwar in unserer Funktion ersetzbar, doch als Personen sind wir einzigartig. Der Vergleich führt in die „Rue de la gack“, bremst nur, macht nur kaputt.

Es ist wahrscheinlich schwierig, nicht zu vergleichen, solange wir in einem System leben, das auf Wettbewerb basiert …
Ja, ich habe zum Beispiel Komposition studiert und darf mich nicht mit Beethoven vergleichen. Da müsste ich ja sofort aufhören. Ich kann nur im Rahmen meiner Möglichkeiten versuchen, der beste Jörg-Martin zu sein, der ich sein kann. Ich kann mein Potential nicht mit deinem Potential vergleichen. Ich habe einen Acker an Begabungen, der so groß ist, dass am Ende meines Lebens vieles unbenutzt geblieben sein wird. Aber es wäre völlig sinnlos, meinen Acker mit deinem Acker zu vergleichen. Das bringt gar nichts.

Wie geht es deinen Schüler:innen, die vielleicht teilweise unter prekären Umständen leben und Österreicher:innen gegenüber alleine schon sprachlich benachteiligt sind?
Da gab es schon immer wieder heftige emotionale Regungen. Ich frag‘ die Leute nie, wo sie herkommen. Ich frage sie: Was machst du gerne? Darin ist meistens auch enthalten, welche Sprache sie sprechen, welche Ausbildung sie haben usw. Und mit der Beantwortung dieser Frage beweise ich den Leuten, dass sie frei sprechen können, selbst wenn Deutsch nicht ihre Erstsprache ist. Viele haben fürchterliche Angst davor, die noch aus der Pflichtschule herrührt, weil sie dort gedemütigt wurden. Das finnische Schulsystem sagt: Kein Kind darf aufgegeben werden. Kein Kind darf beschämt werden. Das ist wichtig.
Was außerdem wichtig wäre: kleine Klassen, um die Individualität der Leute berücksichtigen zu können. Wenn ich als Lehrkraft 27 Leute mit unterschiedlichen Sprachen und Voraussetzungen vor mir habe, bin ich überfordert. Wenn ich gleichzeitig den Lehrplan erfüllen muss, kann ich nicht auf die Individualität der Leute eingehen.

Außerhalb der Schule bist du als Musikkabarettist tätig. Wie hast du es geschafft, deine Kreativität seit deiner Kindheit zu bewahren?
Verloren habe ich sie nie, aber es war nicht so leicht. Ich bin ja ein Schulversager. An mir hat die Schule versagt. (lacht) Das hat mich schwer gekränkt und mein Selbstwertgefühl ziemlich angeknabbert. Aber zum Glück konnte ich mir das Kreative bewahren. Das hat mein Leben gerettet.

Gibt es noch irgendetwas, das du unseren Leser:innen mitgeben möchtest?
Ja, ich möchte gerne das Systemische Konsensieren von Erich Visotschnig empfehlen. Das ist eine Methode, um in der Gruppe einen Konsens zu finden. Und dann möchte ich gerne noch ehrliches, empathisches Feedback empfehlen. In Österreich, aber nicht nur hier, ist es oft so, dass Leute sagen „es war suuuuuper“ und hintenrum „a Schaaaaß“ (lacht). Dabei gibt es eine einfache Methode für ein empathisches und ehrliches Feedback: die Top-Tipp-Methode. Zuerst sage ich, was top war und das ergänze ich um ein paar Tipps. So bringe ich meine Kritik in eine konstruktive Form.
Und was ich zum Schluss noch sagen möchte: Keine Angst vor dem Fehler! Der Fehler gehört zur Kreativität dazu. Wir machen jeden Tag Fehler. Der Fehler kann auch ein Schritt zu einer guten Lösung sein. Mit Angst Kreativität zu betreiben, ist schwierig. Auch wenn wir keine Lösung sehen, heißt das nicht, dass es keine Lösung gibt.