Text: Julia Reiter
Illustrationen: Lena Geiregger

Rassismus in blau

Ist die österreichische Polizei rassistisch? Die Erfahrung eines Studenten, der vor dem Ukraine-Krieg fliehen musste, hat Julia Reiter veranlasst, dieser Frage nachzugehen. Entstanden ist eine Geschichte über Racist Profiling und Zivilcourage.

Stell‘ dir vor, du gehst ins Ausland, um dort deinen Master zu machen. Marketing and International Sales. Kurz vor Abschluss wird dein Studentenleben völlig auf den Kopf gestellt. Was du gestern noch für ein Gerücht gehalten hast, wird wahr. Bomben fallen vom Himmel. Es ist Krieg. Gemeinsam mit drei weiteren Studenten versuchst du zurück in deine Heimat zu flüchten. Chaos, Pfefferspray, Regen, Hunger, Angst, Orientierungslosigkeit… doch schließlich: ein Lichtblick. Ein Freund deiner Familie, der in einer Stadt namens Graz lebt, hat für dich und deine drei Freunde einen Rückflug von Wien nachhause gebucht. Die paar Tage bis zum Flug könnt ihr bei ihm unterkommen und euch von Krieg und Flucht erholen. Oder auch nicht…

Seine Augen sind leer, sein Blick müde. Wären da nicht Kindergeräusche im Hintergrund, könnte mensch ihn fast für ein eingefrorenes Standbild halten. Doch die Internet-Verbindung zwischen Graz und Lagos hält. Abayomi Abiola Ogunniran schaut kurz auf und lässt sein Haupt erneut sinken, als er spricht. „Wir waren fast über die Grenze. Da hat einer der drei Beamten doch gezögert und die Polizei gerufen.“ Wenige Minuten später stand ein silbern-blauer Wagen vor ihnen. Abayomi und seine Freunde hätten versucht den Behörden klarzumachen, dass sie lediglich dem Krieg in der Ukraine entkommen und in ihre Heimat reisen wollten. Weder ihre Studentenausweise, ihre Reisepässe, ihr Visum für den Schengenraum, noch ihre Flugtickets schienen die Polizist:innen zu überzeugen. „Auf unsere Frage, was wir verbrochen haben, antworteten sie nur, dass wir kein Recht hätten, in Österreich zu sein. Sie sagten, wir würden lügen.“ Abayomis Blick ist gesenkt, seine Stimme monoton. „Dann haben sie uns zu einer Polizeistation gebracht und eingesperrt.“

„Die Haft war die Hölle.“

Die Polizist:innen nahmen Abayomis Handy ab. Am nächsten Tag führten sie die vier Studenten zu einer anderen Polizeistation. „Ich wusste nicht wie der Ort hieß, an dem wir waren aber es waren viele Menschen in der Zelle“, erzählt der 29-Jährige. „Erst nach der zweiten Nacht dort durfte ich duschen und bekam etwas zu essen.“ Während Abayomis Freunde schließlich ohne Begründung freigelassen worden sein sollen und in einem Hotel auf ihren Flug warten konnten, musste Abayomi bleiben. Erst am 3. März, dem 4. Tag seiner Festnahme, wurde er freigelassen. Ein Polizist soll ihn um acht Uhr Abends am Bahnhof Wiener Neustadt abgesetzt haben. Mit seinem gesamten Hab und Gut in drei Plastiksackerl gepackt, stand Abayomi nun an diesem für ihn völlig fremden Ort – etwa 10 Stunden vor seinem Abflug. „Der Polizist sagte sorry“, erinnert sich Abayomi. „Das war nett. Doch den Weg zum Flughafen erklärte er mir nicht. Den müsse ich schon selber finden.“ Die Zeit wurde immer knapper, insbesondere nachdem Abayomi auch noch einen PCR-Test machen musste. Aufgrund seines schlechten seelischen Zustands und mangelnder Orientierung verpasste er den Flieger, in dem seine Freunde saßen. Erst zehn Tage später konnte Abayomi heimkehren. Bis heute fragt er sich: Warum?

Eine Frage des (Un-)rechts

Die Suche nach Antwort führt erstmal in das Büro der Caritas-Rechtsberatung und Jörg Krobath. Laut dem Experten für Asyl- und Fremdenrecht braucht es immer eine rechtliche Legitimation, um jemanden anzuhalten. „Wenn die Studenten ein Schengenvisa hatten, ergibt sich keine Rechtsgrundlage, die eine Inhaftierung begründen würde“, sagt der Jurist. „Und kein Essen auszugeben ist sowieso definitiv verboten.“ Jörg Krobaths Einschätzungen basieren auf der Datenlage, die wir haben. „Ob die Polizei eventuell einen anderen Grund für die Inhaftierung hatte, entzieht sich unserer Kenntnis. Aber die Polizei müsste dem Angehaltenen den Grund für die Inhaftierung mitteilen“, erklärt er. „Die Polizei kann nicht einfach willkürlich jemanden anhalten, schon gar nicht über mehrere Tage.“ Diese mehrtägige Anhaltung hält der Rechtsberater daher für heillos überzogen. Und was sagt die Landespolizeidirektion Niederösterreich dazu? – „Aus datenschutzrechtlichen Gründen kann Ihnen von der Polizei zu der Amtshandlung keine Auskunft erteilt werden.

Rassismus im Polizeikammerl

Abayomis Erzählung versetzt um ein paar Jahre zurück. 1999:  Marcus Omofuma verlor durch Polizeigewalt sein Leben. In der größten Polizeiaktion der zweiten Republik, „Operation Spring“ wurden hunderte von mutmaßlichen Drogenhändlern afrikanischer Herkunft kontrolliert, 127 davon festgenommen – viele zu Unrecht. Und auch heute sind rassistisch motivierte Polizeihandlungen allgegenwärtig. Laut einer Studie der EU-Grundrechteagentur (FRA), die 2021 veröffentlicht wurde, ist die österreichische Polizei EU-weit negative Spitzenreiterin beim Anhalten Schwarzer Menschen. Und nicht zuletzt erzählen unsere Megaphon-Verkäufer:innen, wovon etwa 80 Prozent aus Nigeria stammen, immer wieder von belastenden Erlebnissen mit der Exekutive. Abayomis Schilderung scheint kein Einzelfall zu sein.

Ein Austausch mit der Beratungsstelle ZARA (Zivilcourage und Anti-Rassismusarbeit) bestätigt das. „Jedes Jahr werden dutzende Fälle von Rassismus im Zusammenhang mit der Polizei erlebt, wahrgenommen und an ZARA gemeldet – 102 Meldungen zu rassistischer Polizeigewalt alleine 2021“, informiert uns Ramazan Yildiz. Zara unterscheidet dabei unterschiedliche Formen rassistischer Polizeihandlungen. Eine davon ist Ethnic bzw. Racist Profiling – die besondere Bedachtnahme auf Hautfarbe, Sprache, vermutete oder tatsächliche ethnische Zugehörigkeit, Religion oder Staatsbürgerschaft durch Polizeibeamt:innen bei der Entscheidung, ob oder in welcher Weise eine Amtshandlung durchzuführen ist. Darunter fällt die gezielte Kontrolle von Personen dunkler Hautfarbe, ohne dass eine konkrete Verdachtslage vorliegt. Abayomis Erzählung wäre ein Beispiel dafür. „Die geschilderte Situation von Herrn Ogunniran ist zudem ein „klassisches“ Beispiel für strukturellen Rassismus“, sagt ZARA. „Menschen werden dabei in „gute“ und „schlechte“ Geflüchtete getrennt. Es wird zwischen „Europäerinnen und Europäern, die nachbarschaftlichen Schutz brauchen“ und „klassischen Flüchtlingen“ unterschieden.“

Neben der Form des Ethnic/Racist Profilings kommt es laut ZARA auch häufig zu Sekundärer Viktimisierung* und weiteren rassistischen Vorfällen, die mit der Sicherheitsverwaltung und den Organen der öffentlichen Sicherheit in Verbindung stehen. Aus Angst davor und weil die Erfolgsaussichten zu gering oder Kostenrisiko und Zeitaufwand zu großen Hürden sind, beschweren sich viele Betroffene nicht formal. „Vor allem in Aufenthaltsbeendenden Verfahren und bei einer Außerlandesbringung gibt es wenige bis keine realen Optionen, um eine Maßnahmenbeschwerde gegen die Behörden vorzubringen“, ergänzt Jörg Krobath.

Historisch gewachsen

Abayomi ist also definitiv kein Einzelfall. Rassismus ist Teil der österreichischen Polizei und spinnt sich in weiteren öffentlichen Organen fort. Und Abayomis Schilderung reiht sich in eine Serie an rassistischen Polizeihandlungen ein, die viel weiter als bis 1999 zurückreicht. Doch warum ist das so? Die deutsche Komparatistin Debora Darabi hat sich, u.a. im Rahmen ihres Studiums in den USA, ausgiebig mit dieser Frage beschäftigt. „Die Polizei in den USA entstand als Sklavenpatrouille, die entlaufene Sklav:innen zurück auf die Plantage schleppte“, erklärt sie. Die Polizei in Europa ist aus anderen Verhältnissen entstanden. „Im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus stellte sie sicher, dass ehemalige Bauern und andere Menschen, die versuchten, außerhalb von Lohnarbeit ihr Leben zu bestreiten, in kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnissen blieben.“ Die Polizei tue heute somit genau das, weswegen sie historisch entstanden sei: Sie zwingt Menschen, besonders ausgebeutete, rassifizierte Arbeitende, in kapitalistische Gesellschaftsverhältnisse, gegen welche sie rebellieren.

Rassismus bei der Polizei beschreibt Darabi ähnlich wie ZARA. Laut Darabi gibt es dafür einen logischen Grund. „Die österreichische Grenzpolizei hielt Herrn Ogunniran vermutlich an, weil in der Regel Menschen, die so aussehen wie er, eher illegalisierterweise versuchen, ins Land zu kommen.“ Mit dem Aussehen per se habe das allerdings absolut nichts zu tun. Der Grund dafür liegt in den gesellschaftlichen Verhältnissen: Kapitalismus, internationale Arbeitsteilung und Ausbeutung haben dazu geführt und führen dazu, dass Menschen in die Illegalität gedrängt werden. „Sie baden auf individueller Ebene die Widersprüche aus, die der Kapitalismus auf gesamtgesellschaftlicher Ebene produziert“, sagt Darabi. „Und dieses Verhalten wird ihnen dann als individuelles ‚Verbrechen‘ angelastet.“

Zerstörerisches System

Laut Darabi leben unsere gesellschaftlichen Verhältnisse davon, dass ein Teil der Menschen illegalisiert wird. Das übe Druck auf andere Leute aus, nicht in die Illegalität abzurutschen und an ihren schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen festzuhalten. „Es ist wichtig zu verstehen: Ohne Rassismus funktioniert das System nicht“, sagt Darabi. Von Ansätzen wie Antirassismus- oder Diversitätsworkshops hält sie daher wenig. Denn das Problem seien nicht nur individuelle rassistische Polizist:innen, sondern vor allem der Rassismus, der aus den kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen entsteht. Darabis Schluss: „Solange wir die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht verändern, wird sich auch an der Funktion der Polizei nichts verändern.“ Was wir brauchen, um Rassismus nachhaltig aus der Welt zu schaffen, seien ein kollektives, historisches Bewusstsein durch disziplinierte politische Bildung und eine Analyse der spezifischen Verhältnisse, aus denen die Polizei, z.B. in Österreich, entstanden ist, sagt Darabi.

Mut zum Handeln

Während Debora Darabi auf politische Bewusstseinsbildung setzt, ermutigt ZARA zur Zivilcourage: Hinschauen, aktiv werden und laut auf Situationen aufmerksam machen. Ulrike Sommer, ehrenamtliche Mitarbeiterin der Plattform Bleiberecht, hat Zivilcourage gezeigt. Als sie von Abayomis Verschwinden an der österreichisch-slowakischen Grenze erfuhr, setzte sie sofort alle Hebel in Bewegung um ihn zu finden. Sie telefonierte mit zahlreichen Polizist:innen quer durchs Land. Die meisten Antworten waren ernüchternd. Na das klingt ja nach einer super Story – ein nigerianischer Student aus der Ukraine. Das glaubt ja kein Mensch! Den haben sie sicher ins Anhaltezentrum gesteckt. Sonst weiß man ja nicht wo die so herumschwirren. Sommer sitzen die Antworten der Beamt:innen noch sehr im Nacken. „Das Schlimmste war wirklich, Abayomi nicht zu erreichen, nicht zu wissen wie es ihm geht und wo er ist und dann zu hören Ich brauch Ihnen überhaupt nix sagen!“, erzählt sie. Als Pensionistin habe sie zumindest die Möglichkeit gehabt, sich zwei Tage lang voll auf die Suche zu konzentrieren. Berufstätige würden diese Möglichkeit nicht einmal haben. Erst als Abayomi am Ende seiner Inhaftierung sein Handy zurückbekam, erhielt Sommer ein Lebenszeichen. Sommer verbleibt mit dem Aufruf: „Rassistische Handlungen sollten unbedingt bei Stellen wie ZARA gemeldet werden, damit diese nicht unbemerkt bleiben.“ Auch wenn Rassismus im System begründet sei, müssen einzelne Menschen, die rassistisch handeln, zur Rechenschaft gezogen werden und Konsequenzen spüren.

Und Abayomi? Er habe kein Interesse daran, rechtliche Schritte zu gehen. Er sei einfach nur froh nach Krieg, Flucht und Polizeigewalt endlich wieder daheim zu sein. Sein Masterstudium kann der Student vorerst online fortsetzen. Das ist wichtig, damit er seinen PhD in Kanada machen kann. Mit leicht geschlossenen Augen, lässt er sich in die beige-geblümte Couch zurücksinken. Das Gespräch ist vorbei. Abayomis Frage bleibt: Warum.

 

* Betroffene werden selbst für einen übergriffigen Vorfall verantwortlich gemacht. Auch das Abweisen oder Anzweifeln des Vorfalls, das erneute Verletzen durch die Exekutive oder die wiederholte Begegnung mit dem:der Täter:in kann eine sekundäre Viktimisierung bewirken. (ZARA)

Der Verein ZARA setzt sich für Gleichbehandlung und die Umsetzung einer im Regierungsprogramm angekündigten, unabhängigen Beschwerdestelle für Betroffene von Polizeigewalt ein. Infos: www.zara.or.at

Die kostenlose Rechtsberatung der Caritas Steiermark soll Menschen dabei helfen, ihnen einen Überblick über ihre Rechtslage vermitteln. Beratungen zw. Montag und Mittwoch von 09:00 bis 12:00 Uhr, Mariengasse 24 8020 Graz