Interview: Julia Reiter
Fotos: Cédric Fettouche

Roja Massoumi unterstützt Menschen auf der Flucht an den Außengrenzen Europas bei ihrer Traumabewältigung. Im Gespräch mit Julia Reiter berichtet die Psychologin von den Auswirkungen der europäischen Abschottungspolitik auf ihre Klient:innen und verpassten Möglichkeiten.

In der Öffentlichkeit wird häufig von „traumatisierten Flüchtlingen“ gesprochen. Doch was genau bedeutet Trauma überhaupt und wie entsteht es?

Roja Massoumi: Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet Wunde. Wir Menschen haben grundsätzlich ein Gefühl von Kontrolle über das eigene Leben und Vertrauen in andere Menschen. Ist ein Erlebnis so überwältigend und reichen die gewohnten Bewältigungsstrategien nicht aus, kommt es zu einem Gefühl von extremer Hilflosigkeit und Kontrollverlust. So kann Trauma entstehen.
Reaktionen nach einem traumatisierenden Erlebnis sind natürliche Reaktionen auf ein unnatürliches Erlebnis. Es ist normal, dass die Psyche reagiert. Typische Symptome sind Vermeidungsverhalten, Wiedererleben des traumatischen Ereignisses, emotionale Taubheit oder Übererregung. Es gibt aber nicht nur die klassische Diagnose „Traumafolgestörung“, sondern auch eine ganze Bandbreite an Reaktionen, die damit einhergehen kann.

Das Wiedererleben traumatischer Ereignisse – eine der von dir genannten Reaktionen – passiert in gewissen Situationen auch zwangsweise, wie zum Beispiel bei Asylinterviews. Wie müssten diese aus psychologischer Sicht gestaltet werden, um nicht zu retraumatisieren?

In diesen Interviews wird verlangt, dass Asylsuchende chronologisch, lückenlos und detailliert von potenziell traumatisierenden Erlebnissen berichten, um zu beweisen, dass sie die Wahrheit sagen. Das Problem dabei: Die Details, die den Menschen abverlangt werden, sind oft Erlebnisse, die zu einem Zeitpunkt extremer Belastung stattgefunden haben. In einer solchen Situation spalten Menschen sich häufig ab. Das führt dazu, dass gewisse Erlebnisse im Nachhinein gar nicht in das Gesamtbild der Menschen integriert sind. Dadurch ist es sehr schwierig, Einzelheiten wiederzugeben. Das ist ein Schutzmechanismus der Psyche, die sonst vieles gar nicht aushalten würde. Nach einem traumatischen Erlebnis versucht die Psyche gewisse Erinnerungen aus Schutz zu vermeiden und zu unterdrücken. Diese beim Asylinterview mit Gewalt hervorzurufen kann retraumatisierend wirken.
Hinzukommt, dass diese Interviews zum Großteil stattfinden, bevor psychische Stabilität hergestellt wurde – manchmal sogar direkt nach traumatisierenden Erlebnissen. Ein einziges Interview kann über die gesamte Zukunft der Asylsuchenden entscheiden. Das kreiert enormen Druck und ist aus psychologischer Sicht sehr fragwürdig. Wenn ein Interview stattfindet, sollte das Personal sehr gut geschult sein und traumasensibel mit den Menschen umgehen. Am allerwichtigsten: Die Interviews sollten in einem sicheren Umfeld stattfinden. Leider ergibt das einen Widerspruch: Menschen sollten psychisch stabilisiert sein, bevor sie ein Interview führen müssen. Gleichzeitig sind das Interview bzw. der Ausgang des Interviews ausschlaggebend dafür, das psychische Stabilität entstehen kann.
Eine weiteres Problem bei Asylinterviews ist, dass Asylwerber:innen sich oft ganz viel Mühe geben einen dankbaren und perfekten Eindruck zu hinterlassen. Das ist oft nicht unbedingt zu ihrem Vorteil. Denn wenn es ihnen „zu gut“ geht und sie nicht vulnerabel genug wirken, kann das subjektiv ihre Chancen auf Asyl mindern. Ein Mensch muss erst mal so belastet sein, um die gesellschaftliche Anerkennung dafür zu bekommen, dass er:sie  schutzbedürftig ist. Es ist absurd: Wir machen Menschen über Jahre hinweg kaputt bis wir zu dem Punkt kommen, wo wir ihnen helfen müssen.

Mit welchen konkreten Beschwerden kamen deine Klient:innen auf Lesbos zu dir und wie bist du damit umgegangen?

Am häufigsten sind Symptome aus dem depressiven Bereich. Viele Menschen, die schon länger im Camp sind, kommen zu mir und sagen „Ich glaube ich bin verrückt geworden. Mit mir stimmt irgendetwas nicht.“ Ich versuche das zu normalisieren indem ich zurückfrage „Glaubst du es gibt Menschen auf der Welt, die hier unter diesen Umständen und mit deiner Vergangenheit „normal“ leben könnten?“ Dann merken die meisten, dass es nicht an ihnen, sondern am System liegt, dass sie sich so fühlen. Sie erkennen, dass ihre Gefühle und Gedanken normal und okay sind. Ich glaube es ist wichtig Menschen nicht ausschließlich in ihrer Stärke zu bestätigen. Es ist auch wichtig die Wut und Enttäuschung über das System zu validieren. Denn letztlich handelt es sich um ein sozial-politisches Trauma, das durch bewusste politische Entscheidungen und das Aufziehen von Grenzen verursacht wurde. Die Betroffenen haben das Recht darauf, über die Ungerechtigkeit, über den Rassismus und die Diskriminierung wütend oder traurig zu sein. Gleichzeitig müssen wir achtgeben, sie nicht als Opfer zu betrachten. Sie sind Überlebende eines Systems, das nicht für ihr Überleben ausgerichtet ist.

Du hast einmal gesagt: Was oft viel belastender  ist als die traumatisierenden Erlebnisse in den Herkunftsländern wie Krieg usw. ist der Dauerzustand von Ungewissheit, das Warten in Lagern wie auf Lesbos und die Unmöglichkeit, sich ein neues Zuhause aufzubauen. Woran liegt das?

In meiner gesamten Arbeit bin ich nicht einer Person begegnet, die fliehen wollte. Aber ich bin vielen begegnet, die gesagt haben: „Alles was ich seit meiner Ankunft in Griechenland erlebt habe ist so viel schlimmer als die Dinge davor. Ich wäre liebe zuhause schnell durch eine Bombe im Krieg gestorben, als hier in Europa langsam zu verenden.“ Die meisten Menschen können ein traumatisches Erlebnis eigentlich unter gewissen Umständen und Schutzfaktoren gut bewältigen. Hilflosigkeit und Kontrollverlust sind die Kerngefühle von traumatischen Erlebnissen. Können Kontrolle und Handlungsfähigkeit wiedererlangt werden und Erlebnisse integriert werden, muss es nicht zu Traumatisierung kommen. Menschen die auf der Flucht sind und keine sicheren Fluchtwege haben wird diese Möglichkeit genommen.

Bedeutet das im Umkehrschluss, dass durch die sicheren Fluchtrouten, die derzeit für Flüchtende aus der Ukraine geschaffen werden, das Risiko eines chronischen Traumas reduziert wird?

Das lässt sich so allgemein nicht beantworten, aber grundsätzlich ist das natürlich schon von Vorteil. Ich hoffe, dass die Solidarität, die den Menschen aus der Ukraine gezeigt wird, nicht aufhört und eine langfristige Solidarität daraus wird. Sollte uns das gelingen, wäre es ein gutes Beispiel dafür, dass wir sehr wohl sichere Räume und Fluchtrouten schaffen können. Um traumatische Ereignisse gut zu verarbeiten, braucht es diese sicheren Fluchtwege, eine Willkommenskultur, die Möglichkeit anzukommen und seine:ihre Kinder in die Schule zu schicken, eine Sprache zu lernen usw. Diese Schutzfaktoren werden manchen, wie aktuell den Flüchtenden aus der Ukraine gewehrt und aus anderen Nationen verwehrt. Sie sollten jedoch allen Menschen zustehen. Hier kommen wir leider nicht drum rum uns den Rassismus in der Migrationspolitik von Europa zu verdeutlichen. Ich glaube bisher hatten viele die Vorstellung, dass Geflüchtete von weit herkommen, POC oder Schwarz sind. Diese Vorstellung ändert sich gerade bei vielen. Der Fehler liegt allerdings darin, dass wir das überhaupt erst so gedacht haben. Denn ein Flüchtling zu sein, hat nichts mit einer Hautfarbe zu tun. Es kann jede:n überall auf der Welt treffen.

Ein krasses Gegenbeispiel zur relativ sicheren Fluchtroute aus der Ukraine ist jene von Libyen übers Mittelmeer nach Italien. Du kennst diese aus Perspektive der Seenotrettung. Was macht diese Route so problematisch?

In Libyen gibt es Inhaftierungslager mit extremen Menschenrechtsverletzungen, wie Folter, Menschenhandel, Morden, Vergewaltigung, Kidnapping usw.. Menschen die aus Libyen nach Italien fliehen, sind meistens durch die Erlebnisse dort aber auch bereits davor in ihren Herkunftsländern oder auf der Route nach Libyen, durch die lebensbedrohliche Sahara traumatisiert. Die Überquerung übers Mittelmeer von Libyen nach Italien ist so lange, dass kein Boot, das Libyen verlässt, darauf ausgerichtet ist, es bis Italien zu schaffen. Die Menschen, die sich in die Boote setzen, wissen das zumeist aber nicht. Staatliche Seenotrettung existiert jedoch nur noch in der Theorie, nicht in der Praxis. Nur die zivile Seenotrettung versucht noch, Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren.
Die EU betreibt eine Abschottungspolitik. Es werden Deals mit höchst fragwürdigen Politiker:innen gemacht, welche nicht im Sinne der Menschenrechte, auf welche sich die EU stützt, agieren,. Es werden immer mehr Zäune hochgezogen. Die sog. Küstenwache in Libyen, von der bekannt ist dass sie in Menschenhandel involviert ist, dass sie aus Milizen besteht usw. wird mittels EU-Geldern ausgebildet um Menschen auf der Flucht fern zu halten. Nicht umsonst trägt die EU den Spitznamen Festung Europa.

Welche Auswirkungen haben wir als Gesellschaft zu befürchten, wenn wir so mit traumatisierten Menschen umgehen?

Anstatt sich zu fragen „Was haben wir zu befürchten?“, wäre es vielleicht interessanter zu fragen „Was verpassen wir eigentlich?“. Hätten wir sichere Fluchtrouten und würden keine multiplen traumatischen Erlebnisse mit all seinen Folgestörungen schaffen, hätten wir die Alternative, Menschen in unsere Gesellschaft zu integrieren, die uns bereichern – sowohl gesellschaftlich, wirtschaftlich als auch persönlich. Ich glaube, wir verpassen die einmalige Chance, unsere Gesellschaft zu einem besseren Ort zu machen. In meiner Arbeit sind mir so viele Menschen mit Fähigkeiten, mit Stärken und unglaublicher Resilienz begegnet, die sehr viel zu unserer Gesellschaft beitragen könnten. Und als solche müssen wir anfangen, sie zu sehen. Dann können wir alle davon gewinnen.

Roja Massoumi ist Psychologin (M.Sc.) mit Fokus auf Trauma, Notfallpsychologie und Suizidprävention. Im März 2020 nahm sie an einer Seenotrettungsmission am Mittelmeer teil. Das vergangene Jahr verbrachte sie auf der griechischen Insel Lesbos, um dort Menschen auf der Flucht psychologisch zu betreuen.