Text: Peter K. Wagner
Fotos: Arno Friebes

Was Schule machen könnte

Seit bald 30 Jahren ist die Schule im Pfeifferhof eine beliebte reformpädago­gische Alternative. Seit kurzem ist sie die zweite buddhistisch anerkannte Schule Österreichs. Aber nicht nur deshalb glaubt Peter K. Wagner, dass die Schule eine Vorreiterrolle einnehmen könnte.

Ich habe mir noch keine wirklichen Gedanken gemacht, wo mein Kind einmal zur Schule gehen soll. Heute nicht, da es fünfeinhalb ist, und noch weniger vor etwa einem Jahr. Andreas und Eva schon. Die Eltern kontaktierten das Megaphon Anfang des Vorjahres, ob wir nicht darüber berichten wollen, dass die Schule ihrer Kinder, ab dem Schuljahr 2021/22 zur zweiten buddhistisch anerkannten Schule Österreichs wird. Ich gebe dem Geschichtenvorschlag eine Chance. Die Schule von Andreas‘ und Evas Kindern hat den Namen SIP (Schule im Pfeifferhof) und war mir bis dahin nur unter dem alten Namen „Knallerbse“ ein Begriff. Ich kenne Eltern, die ihre Kinder dort unbedingt aufgenommen wissen wollten. Nur wenige schaffen es, die Einstiegshürde ist auch aufgrund von Schulgeld sehr hoch. Das klingt für mich elitär. Nicht zuletzt in Anbetracht der Schulsituation in Graz, die dem Megaphon auch durch seine Verkäufer:innen vor Augen geführt wird.

Ein systemisches Problem
Wie in vielen anderen urbanen Räumen von Wohlstandsgesellschaften gibt es auch in Graz sogenannte Brennpunktschulen. Es sind Bildungseinrichtugen, in denen Kindern de facto mit Eintritt in die erste Schulstufe bereits die Chance zum sozialen Aufstieg genommen wird. Dass diese Schulen gut besucht sind, hat einen einfachen Grund: Die Eltern der dort eingeschriebenen Kinder haben gar nicht die Ressourcen, sich mit der Schulwahl auseinanderzusetzen, geschweige denn hätten sie den finanziellen und zeitlichen Background, um nur an eine Privatschule zu denken. Es handelt sich um ein systemisches Problem, das der Politik bewusst ist, dem aber auch von der neuen Stadtregierung nicht merkbar entgegengewirkt wird.

Aber genug der Einordnung. Es ist Mitte Mai, als ich nach drei coronabedingten Terminverschiebungen zusammen mit unserem Fotografen vor einem idyllisch am Grazer Stadtrand gelegenen Gebäude stehe. Hier, zwischen Mariatrost und Andritz am Berg, fühlt sich alles mehr rural als urban an, und als wir schließlich durch die Eingangstür gehen, ist meine konventionell geprägte Vorstellung von Schule plötzlich sehr weit entfernt. Ich habe nämlich das Gefühl, ein Einfamilienhaus zu betreten.

Es ist Freitag. Wir haben uns diesen Tag ausgesucht, weil heute buddhistischer Religionsunterricht stattfindet. Freitag bedeutet aber auch: Projekttag. Und daher nicht unbedingt repräsentativer Schulalltag. Heute ist eine Mutter da, die Häkelunterricht gibt, die Jüngsten starten gerade mit einer Ruheübung in den Tag, die sie auffordert, ohne zu sprechen nach der Reihe verschiedene Symbole zu einem künstlerischen Mandala zu legen. Und im eigentlichen Turnsaal ist Buddhismuslehrer Michael mit zwei Schüler:innen dabei, eine Fabel über Selbstopferung zu besprechen. Mittendrin beim Rundgang: Schulbänke und -sessel, wie ich sie aus meiner Schulzeit kenne, jede Menge Bücher, Lehrpläne, Lehrmaterialien und Kinder voller positiver Energie zwischen sechs und 15 Jahren. Es ist eine andere Welt. Über die Lisa Hofer und Monika Berze mehr zu berichten wissen. Die beiden lehren nicht nur an der Schule, sondern sind seit drei Jahren auch Co-Leiterinnen der Bildungseinrichtung.

„Wir haben einen Bildungsauftrag“
„Möglich ist es, hier die Schulpflicht zu erfüllen, also die erste bis zur neunten Schulstufe“, sagt Lisa, die vor allem für das pädagogische Konzept verantwortlich und ausgebildete AHS-Lehrerin für Französisch und Spanisch ist. Rund 80 Kinder und Jugendliche seien gerade an der Schule, etwa zehn würden pro Jahr aufgenommen werden. Die Eltern sind wesentlich beteiligt und unterstützen das Schulleben mit 70 Stunden ihrer Zeit pro Schuljahr. Es gibt die Primaria 1, Primaria 2 und die Sekundaria – jede SIP-Schulstufe umfasst drei Jahre. Der Unterricht beginnt um 8:30, die erste Pause folgt um 10:30. Nachmittagsbetreuung wird auch angeboten, Noten gibt es erst, wenn man die Schule verlässt. Und der Unterricht? „Wir haben eigene Lehrpläne, lehnen uns aber an den öffentlichen Lehrplan an. Wir haben nicht den Stress wie öffentliche Schulen, dass Kinder nach einem Schuljahr gewisse Dinge können müssen.“ Das bedeutet aber nicht, dass sich jedes Kind nur frei entfalten kann. „Wir haben einen Bildungsauftrag“, sagt Lisa. „Wir müssen auch Rahmenbedingungen schaffen, damit die Kinder auf das Leben vorbereitet sind. Persönlichkeitsbildung, Kreativität und Neugierde sind ein Teil davon, aber auch gut Lesen und Schreiben sowie die Malreihen zu können.“

Mehr Raum für Talente
Das pädagogische Konzept ist ein schmaler Grat zwischen Freiheit und Struktur. Ein Weg, der im Übrigen auch an einigen wenigen öffentlichen Schulen in Graz beschritten wird. „Es gibt geführte und freie Zeiten“, sagt Lisa. Durchfallen im herkömmlichen Sinn ist nicht möglich, doch gibt es Übertrittskriterien, die nach jeweils drei Jahren erreicht werden müssen. „Dadurch gibt es mehr Raum, Talente sichtbar zu machen.“ Zwei Praktika im Jahr ab der fünften Schulstufe unterstützen diesen Prozess ebenfalls. Lisa meint: „Unsere Kinder wissen, was sie wollen und was sie können.“ Monika Berze hat selbst zwei Kinder an der Schule und ist ausgebildete Volksschullehrerin. „Das soziale Gefüge ist essenziell, um Lernen möglich zu machen. Daher legen wir besonderen Wert darauf“, ergänzt sie. Das aktuelle Konzept beruht auf einer Neuorientierung, die vor etwa fünf Jahren begann. Grund war unter anderen die zunehmende Digitalisierung. „Die Gesellschaft hat sich verändert. Magneten wie Smartphones haben dazu geführt, dass die Kinder nicht mehr den ganzen Nachmittag draußen verbringen.“

Geringeres Schulgeld als Riesenerleichterung
Monika ist auch für Finanzen zuständig. 400 Euro betrug das Schulgeld monatlich pro Kind bis vor kurzem. Bis Sommer 2021, da wurde die SIP eben neben einer Montessorischule im vorarlbergischen Altach zur zweiten buddhistisch anerkannten Schule Österreichs. Ein langer Prozess mit positiven Folgen. Seitdem beträgt das Schulgeld 250 Euro – weil in der Alpenrepublik nur dann das Lehrpersonal von öffentlicher Hand finanziert wird, wenn der Träger eine Religionsgemeinschaft ist. Viele Privatschulen in Österreich wollen nun den Weg der SIP gehen – die ÖBR (Österreichische Buddhistische Religionsgemeinschaft) bekommt daher zuletzt vermehrt Anfragen, will bis 2024/25 aber keine weiteren Schulen tragen. „Das geringere Schulgeld ist eine Riesenerleichterung für die Eltern“, weiß Monika. Auch für die Schule rückt das seit Gründungstagen große Thema Finanzen etwas in den Hintergrund. Und wird das Klientel dadurch anders? „Das werden wir erst sehen, weil auch die Kinder, die im Herbst starten, zur Bewerbungszeit noch nicht wussten, dass wir eine buddhistische Schule werden.“ Lisa sagt: „Wir wollten auch deshalb eine buddhistische Schule werden, um für mehr Menschen zugänglich zu werden.“ Darüber hinaus seien schon Gründereltern Buddhist:innen gewesen. Und: „Viele unserer Werte decken sich mit buddhistischen.“

Schule als Ort des steten Lernens aller Beteiligten
Nach meinem Besuch an der SIP unterhalte ich mich noch telefonisch lange mit Uwe Blahowsky und Maria Stieber. Uwe war der zweite Lehrer der damaligen Knallerbse und leitete die Schule später viele Jahre. Maria war dabei, als Eltern des, ebenfalls sehr kinderbedürfnisorientierten, Kocher-Kindergartens Anfang der 90er-Jahre bei einem Elternabend die Idee hatten, die SIP zu gründen. Sie ist – mit kurzer Pensionierungsunterbrechung – bis heute an der Schule tätig. Maria, Uwe, Lisa und Monika, aber wohl auch Andreas und Eva sind Idealist:innen, die den Status quo des Schulsystems hinterfragen. Durch die vielen Gespräche mit alten und neuen Protagonist:innen der SIP wird mir klar, dass eine elterngetragene Privatschule einem ständigen Prozess unterliegt, der intensiver zu sein scheint als in öffentlichen Bildungseinrichtungen – alleine deshalb, weil es mehr Gestaltungsmöglichkeiten gibt. Öffentliche Schulen vermitteln vielerorts immer noch den Eindruck, es stehe im Vordergrund, ein festgefahrenes System aufrechtzuerhalten, das militärisch-klerikalen Ursprungs ist. Oder, wie Lisa es beschreibt: „Oft ist Schule starr und verändert sich nicht – dabei ist Schule der Ort des Lernens.“ Der SIP’sche finanzielle Gamechanger, buddhistische Schule zu werden, ist bester Beweis für verkrustetste Strukturen.

Ich weiß weiterhin nicht, wo mein Kind übernächsten Herbst in die Schule gehen wird. Die SIP ist nach dem Besuch auf jeden Fall eine Option. Aber ganz egal, ob es eine Privatschule oder eine öffentliche wird – für mich hat der Start der Beschäftigung mit dem Thema Schulwahl gezeigt: Ich sehe in Schulen wie jener im Pfeifferhof nicht mehr elitäre Oasen, sondern vielmehr Bildungseinrichtungen, die eine Vorreiterrolle einnehmen. So wie sich die Gesellschaft stetig entwickelt – und meist sogar weiter –, sollte das auch für Bildungseinrichtungen gelten. Ich glaube, kindbedürfnisorientierte Philosophien wie jene der SIP werden Schule machen – und immer mehr bis ins öffentliche System strahlen. Wovon nicht zuletzt irgendwann auch jene profitieren könnten, die weniger privilegiert sind – Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die um den sozialen Aufstieg kämpfen. Zumindest ist das meine – vielleicht auch naive – Hoffnung.