Text: Julia Reiter
Fotos: Ella Börner

Weil ich ein Mädchen bin

Übergriffe, Bodyshaming, Rollenbilder. Der Weltmädchentag macht auf die Diskriminierung heranwachsender Frauen aufmerksam. Doch was beschäftigt Mädchen der Generation Z überhaupt? Und was hat sich in den vergangenen Jahren verändert?

Triggerwarnung: Im nachfolgenden Artikel geht es u.a. um sexualisierte Gewalt und Essstörungen.

Ich trage ein Kleid wie aus einem anderen Jahrhundert. Blümchen, Spitzenkragen, geraffter Rock – zusammengehalten von rosa Karostreifen. Vor mir steht meine neue Schultasche: Minimaus, rosa. Jetzt bin ich ein Schulmädchen. Die Jahre vergehen. Meiner Schwester sagt man(n): „Bei dir ist’s egal, ob du genug lernst. Mit deiner Modelfigur wirst du leicht einen reichen Mann zum Heiraten finden.“ Mir sagt man(n): „Zum Glück bist du ehrgeizig, Mädl. Wenn du nicht ein paar Kilo abnimmst, wirst du nie einen Mann finden.“ Weitere Jahre vergehen. Skater Dudes sagen mir: „Für ein Mädchen skatest du eh ziemlich gut.“ Mein Freund redet von den Mädels, wenn ich meine Ü30-Freundinnen treffe. Wenn über Jugendliche geschimpft wird, fühlt sich das Mädchen in mir immer noch angesprochen … Doch beim Blick auf meine Zornesfalte, die dem Schnitt eines Buttermessers gleicht, muss ich anerkennen: Als Mädchen geh‘ ich nicht mehr durch. Zu viele Jahre sind vergangen. Ich frage mich: Was hat sich in der Zwischenzeit verändert?

Besuch bei Intra:works
„Das ist Mary Quant“, erklärt Leonie und zeigt auf die Zeichnung einer Frau mit Pixie-Frisur. „Sie gilt als Erfinderin des Minirocks. Nachdem Frauen ewig nur Röcke tragen durften, die über die Knöchel gehen, war das schon besonders.“ Bianca deutet auf eine zweite Zeichnung. Der Curly Baby Hairstyle aus den 20ern kommt mir bekannt vor. „Josphine Baker“, antwortet Bianca auf meinen fragenden Blick. „Sie war eine berühmte Tänzerin und Sängerin, engagierte sich gegen den Zweiten Weltkrieg und adoptierte zwölf Kinder.“ Um Mary Quant und Josephine Baker gruppieren sich weitere illustrierte Gesichter von Frauen, die hier Vorbildwirkung haben. Hier, das heißt bei intra:works, einem Beschäftigungsprojekt von mafalda für Mädchen und junge Frauen. Leonie und Bianca sind beide 18 Jahre alt und konnten hier nach der Modeschule ein halbes Jahr lang verschiedene Handwerke erlernen und erste Einblicke in die Arbeitswelt sammeln.
In der Mitte der Werkstatt steht ein Tisch mit knallgelben Stühlen, an dem locker zehn Mädchen arbeiten könnten. Einige tun es auch. Sie sticken Vogelbroschen, die unter dem Motto „Hast du einen Vogel? – Trage ihn mit Stolz.“ verkauft werden. Drei bis fünf Stunden brauchen sie pro Stück. An der Wand über den Nähmaschinen hängt Garn in allen Farben. Im Shop, ein paar Meter weiter, setzt Leonie ihre Tour fort: Stofftaschen („sehr praktisch und stabil“), Samenkarten („kann man wirklich einsetzen!“), Vulva-Anhänger („voll cool, aus Schrumpffolie“), Geschirrtücher, Anhänger, Postkarten, Schmuck … die Produktpalette ist groß und bunt und lässt mich bereuen, dass ich kein Bargeld eingepackt habe. Aber hier wird nicht nur handwerklich gearbeitet. In diesem geschützten Raum tauschen sich die Pädagoginnen, Trainerinnen und Teilnehmerinnen auch über Geschlechterrollen aus.

Wie ein Mädchen
Würdet ihr euch eigentlich als Mädchen bezeichnen?
Leonie: Eher als junge Frau, Mädchen klingt so nach Volksschule, Unterstufe …
Bianca: Auch als junge Frau.
Woran denkt ihr bei „Wirf, lauf, fang wie ein Mädchen!“
Bianca: Viele nehmen das nicht so ernst.
Leonie: Da denk ich an ein kleines Volksschulkind, das schief läuft. Tollpatschig eben.

Wie empfindet ihr „Sei kein Mädchen!“?
Leonie: Beleidigend. Wird mehr mit Schwäche assoziiert.
Bianca: Niemand sagt als Beleidigung „Sei kein Junge!“
Sprache schafft soziale Wirklichkeit. Das legen unterschiedliche Theorien von Philosoph:innen wie Judith Butler, Ludwig Wittgenstein oder John L. Austin nahe. Das Wort „Mädchen“ ist an sich keine Beleidigung. Wenn es aber regelmäßig verwendet wird, um jemanden als schwach, ängstlich oder tollpatschig zu bezeichnen, bekommt es diesen Beigeschmack der Abwertung, den Leonie, Bianca und ich gut kennen. Dass ich manchmal schlucke, wenn ich als Mädl bezeichnet werde, hat noch andere Gründe. Ich bin jetzt über 30 und möchte nicht mehr verniedlicht, sondern eigenständig und auf Augenhöhe gesehen werden. Natürlich sind nicht alle „Mädl“-Rufe abwertend oder herabwürdigend gemeint, aber sie können (unbewusst) beeinflussen, wie wir unser Gegenüber wahrnehmen. „Mädchen … “ kein einfaches Thema. Und wie sieht es mit der Rollenverteilung aus?

Karrieremann und Rabenvater
Bianca ist in der Nähe von Bruck aufgewachsen. Ihr Vater hat auf der Baustelle, ihre Mutter auch auswärts gearbeitet. Trotzdem hat sie sich zusätzlich um den ganzen Haushalt und die Kinderbetreuung gekümmert. „Mein Vater hat mir damals schon gesagt, dass ich kochen lernen soll, für später, wenn ich Hausfrau bin“, erzählt Bianca. „Das kannst du vergessen, dachte ich damals. Aber inzwischen hat er dazugelernt.“ Sie lacht. Dabei fallen ihr die Stirnfransen ins Gesicht. Die eingedrehten blonden Strähnen wippen von links nach rechts. „Ich komme auch vom Land mit einer klassischen Rollenverteilung“, sagt Leonie. „Früher hat vor allem meine Mama auf mich aufgepasst, zum Glück auch meine Oma. Wenn wir bei ihr waren, waren die Mädchen in der Küche eingeteilt und die Männer im Wald bei der Männerarbeit.“ Leonie und Bianca sehen sich an. Sie wissen genau, wovon die andere spricht. Ob sie sich vorstellen können, auch einmal Hausfrau zu werden? Ein „Nein“ wie von Synchronsprecherinnen. Ein Lachen, als hätte ich gefragt, ob sie morgen zum Mars fliegen wollen. „Ich finde den Druck, Kinder kriegen zu müssen, anstrengend“, sagt Bianca, und Leonie fügt nickend hinzu: „Wenn Frauen jung Kinder kriegen, denken viele „Oh Rabenmutter, die kann gar nicht auf ihr Kind schauen, die wirft ihr Leben weg.“ Wenn Frauen stattdessen keine Kinder bekommen und Karriere machen, werden sie als Karrierefrauen gehatet. Mir kommt oft vor, egal welche Entscheidung man als Frau trifft, es ist immer die falsche.

Tradwives
Apropos Hausfrauen! Bianca zieht ihr Smartphone aus der Tasche, tippt kurz und hält es uns entgegen. Vom Display strahlt uns eine Frau mit Zähnen wie aus Hollywood und Cinderella-artigem Haar entgegen. Sie dürfte in meinem Alter sein, jedoch wesentlich bessere Skin Care benutzen. Ihr Strahlen gilt dem Geburtstagspäckchen ihres Mannes, das sie vor laufender Kamera öffnet. „Hoffentlich Flugtickets nach Griechenland“, sagt sie mit amerikanischem Akzent. Ihre Augenbrauen und Mundwinkel ziehen sich nach oben, als ein Stück Stoff zum Vorschein kommt. „Oh, ein Hut, den ich in Griechenland tragen kann!“ Doch sie irrt sich. Das Stück Stoff entpuppt sich als Eierschürze. Während ihr Mann die Qualität des Geschenks lobt, zieht die Frau die Schürze an und performt ein Freudentänzchen.
Die junge Frau heißt Hannah Neeleman. Schon bevor ihr Geburtstagsvideo viral ging, war sie mit 10 Mio. Follower:innen auf Instagram eine digitale Berühmtheit. Unter dem Namen „Ballerinafarm“ zeigt die Tänzerin und das Model ihr Leben als Hausfrau und Mutter von acht Kindern auf ihrer Farm in Utah. Mit Baby im Tragetuch vorm Herd, ein Kochlöffel im Stroganoff, zwei Kleinkinder am Schürzenzipfel, kein Tropfen Schweiß auf der Bluse, das Lächeln einer ehemaligen Mrs America, perfekt gestylt und unbeschwert. Hannah Neeleman verkörpert das, was seit Ende der 2010er Jahre in den sozialen Medien als Tradwife – kurz für „Traditional Wife“ – bekannt ist. Perfekt inszenierte Hausfrauen propagieren auf TikTok, Insta und Co. einen Lifestyle, der sich an alten, tradierten Geschlechterrollen orientiert. Dabei wird oft verschleiert, dass es sich um finanziell hoch privilegierte Personen handelt – Hannah Neelemans Ehemann ist beispielsweise Erbe der Fluglinie JetBlue, bei denen die Hausarbeit mühelos erledigt wird, weil sie es sich leisten können. Außerdem wird einigen Tradwives vorgeworfen, rechte und antifeministische Inhalte unter ihre Rezepte von hausgemachtem Joghurt und Einmachgurken zu streuen.
„Ich bin immer wieder schockiert über Leute, die meinen, Frauen gehören in die Küche“, sagt Leonie. „Ich find’s schade, wenn Frauen da verloren gehen.“ Doch auf Social Media finden sich natürlich auch Inspirationsquellen, die empowern. „Oft ist es cute wie Frauen innerhalb kleiner Gruppen einander aufbauen und motivieren“, sagt Leonie. „Viele trauen sich online eher, ihre Meinung offen zu teilen, zum Beispiel was Abtreibung angeht. Dadurch werden viele Themen normalisiert.“ Und wieder andere werden dadurch objektifiziert.

Doppelmoral: Body Count
„Uh wie eklig, die hat einen Body Count von 3!“, gibt Leonie Kommentare von „Typen“ wieder. „Während Männer für einen hohen Body Count gelobt werden, werden Frauen dadurch immer ekliger dargestellt.“ Der Begriff „Body Count“ wurde ursprünglich im Militär für die Anzahl der getöteten Gegner verwendet. Wem das Wort bekannt vorkommt, kennt es wahrscheinlich aus einem anderen Zusammenhang. Gerade in den letzten Wochen hat der „Body Count“ in den sozialen Netzwerken eine Renaissance erlebt. Gezählt werden dabei nicht mehr gefallene Gegner, sondern sexuelle Geschlechtspartner:innen. Im AppStore findet sich mittlerweile sogar ein Body Count Tracker mit Optionen wie: Anzahl der Sessions, Verhütung, Fotogalerien, Meilensteine feiern, Top Partner Ranking etc. Für einen Moment fühle ich mich in meine Sport-Tracking-App Strava zurückversetzt. Nur dass man hier statt zwei Rädern einen Menschen unter (oder über) sich hat. Die Kritik am TikTok-Trend liegt auf der Hand: Menschen werden objektifiziert. Und es entsteht ein ungesunder Wettbewerb. Die Reaktionen auf einen bestimmten Body Count reichen von Lob bis Beschämung – stark abhängig vom Geschlecht der jeweiligen Person.

Objektifiziert
Kennt ihr das, wie ein Objekt behandelt oder gesehen zu werden?
Leonie: Ja! Ich werde oft unangenehm von fremden Männern angesprochen oder zum Sex aufgefordert. Außerdem gibt es viele Körperkommentare, z.B. von den Jako-Typen. Die schauen wildfremden Frauen hinterher und sagen: „Schau‘ dir ihren kleinen Arsch an!“ Heftig finde ich auch: Wenn Frauen beleidigt werden, dann oft über ihren Körper.
Bianca: Wenn Typen einen Korb bekommen, hören wir oft: „Egal, du bist doch eh hässlich!“
Leonie: Oder du wirst als Hure beschimpft.
Bianca: Krass ist auch, wenn eine Frau nur Nein sagt, versuchen es die Typen oft weiter. Aber sobald ein anderer Mann im Spiel ist, lassen sie von dir ab. Dann ist der Besitz schon „markiert“…
Leonie: Männer kommen oft sehr selbstverständlich mit „Komplimenten“ und „Aufforderungen“. Meinen die ernsthaft, dass ich mein Leben lang genau auf den gewartet habe und ihm jetzt den roten Teppich ausrolle? Ja, wildfremder Mann mit Alkfahne von vor drei Jahren, bitte schlaf mit mir! (lacht)

Krass …
Leonie: Männer greifen uns schnell an. Wenn sie sich z.B. ihren Weg durch den vollen Bus bahnen wollen, fassen sie mir an die Taille, um mich zur Seite zu schieben. Dabei würde ein Schultertippen auch reichen. Männer scheinen das Gefühl zu haben, das sei ihr Recht.
Bianca: Oder als ich letztens in meine Musik versunken an der Selbstbedienungskassa stand, schauten mich zwei Typen an und sagten: „Lächel doch mal!“ – „Nicht für dich“, hab ich geantwortet. (lacht)
Leonie: Manchmal fällt es mir schwer, spontan eine Grenze zu ziehen, weil ich mit der Situation überfordert bin. Einmal hat mich ein Mann im dreifachen Alter von mir an meiner Hüfte festgehalten und mich gefragt, ob ich ihn heiraten möchte. Ich hätte ihn gern angemault, aber ich war so in Schockstarre, dass ich nichts sagen konnte außer: „Nein danke.“ Weitergehen und ignorieren hilft oft. Bei manchen kann das aber auch schief laufen.

Bewundernswert, wie ihr über solche Sachen reden könnt …
Leonie: Therapie.
Bianca: Ich auch.

Ich auch. Nach dem Interview können wir dann alles aufarbeiten.
Wir lachen. Dann verlassen wir den Laden und gehen hinaus. Auf dem Asphalt der Arche Noah liegt ein Hauch von Strand. Liegestühle unter einem Sonnenschirm wie aus Zuckerwatte. Auch die Temperaturen stimmen. Am Hochbeet habe sie mitgepflanzt, erzählt Leonie. „Das war ein Fehler. Doch nicht so chilly-marilly, wie ich dachte.“ Sie lacht und wir nehmen im rosa Schatten Platz.

Beauty, das Biest
Eine Kiste, die für die meisten Mädchen und Frauen schwierige Erinnerungen birgt, haben wir bisher noch nicht geöffnet: Schönheitsideale, -normen, -druck, -wahn … you name it. „Mit dem Fokus auf Beauty geht es mit dem Selbstbewusstsein von Mädchen steil bergab“, sagt Gender-Forscherin Stevie Schmiedel in einem Interview mit dem Standard. 2006 fühlten sich noch 70 Prozent der Mädchen wohl in ihrer Haut, 2012 seien es laut WHO nur noch 43 Prozent gewesen. „Die meisten Mädchen fühlen sich zu dick und hässlich“, sagt sie. „Und besser könnte es für die Marktwirtschaft nicht sein, denn 80 Prozent der Produkte und Dienstleistungen der westlichen Welt werden von Frauen gekauft. Und die können mit einem unerreichbaren Schönheitsideal vermarktet werden.“
Leonie und Bianca tauschen ernste Blicke aus. Natürlich sind das keine News, aber konkrete Zahlen hauen dann doch immer wieder rein. Leonie trägt vier Piercings im Gesicht, eines am Bauchnabel. Auf Biancas Oberarm formen tättowierte Linien eine Figur mit hochgestecktem Haar, Herz und Flügeln. Wie viele junge Frauen der Generation Z verzichten die beiden mit einer Selbstverständlichkeit auf BHs, von der ich Millenial nur träumen kann. Können sich diese jungen Frauen, deren reflektiertes Selbstbewusstsein mich zutiefst beeindruckt, vor dem Schönheitsdruck schützen?

Zero Size, slim thick, curvy …
Leonie: Ich konnte mich früher nicht annehmen wie ich bin, weil ich mich nicht schön genug gefühlt habe. Ich find’s schade, wie schnell unterschiedliche Ideale Trend werden. Letztes Jahr waren es bei Frauen noch Kurven, auf einmal wollen wieder alle voll abnehmen. Vor allem junge Mädchen haben ohnehin schon ein Problem mit dem Thema. Aber das wird noch schlimmer ,wenn sie vermittelt bekommen „Werde dünn, weil anders mag dich niemand.“ Manchmal werden Mädchen im Normal- oder Untergewicht als „curvy“ oder sogar „plus-size“ bezeichnet. Das hat keine gute Vorbildwirkung.

Und welches Schönheitsideal erwarten Männer von euch?
Leonie: Das Idealbild entspricht oft sehr stark dem eines Kindes. Klein, glatt, haarlos, am besten keine (sexuellen) Vorerfahrungen …
Bianca: Bei Kellnerinnen ist es oft so, dass sie mehr Trinkgeld bekommen, wenn sie zwei geflochtene Zöpfe tragen, also quasi wie ein kleines Mädchen aussehen. Einige Kellnerinnen haben das getestet und auf Social Media gepostet.

Dann muss ich zukünftig aufpassen, wo ich meine Zöpfe trage … (lachen)
Bianca: Auch Rasieren ist so ein komisches Thema. Manche Männer sagen „Mmmmmh ja, es muss alles ganz glatt rasiert sein“ – wie ein Kind eben.
Leonie: Die Modeschule hat mich da zum Glück auch anders geprägt. Da haben viele Frauen einen F*ck auf’s Rasieren gegeben. Aber am Jako – ein paar Meter weiter – geht es ganz anders zu. Eine Freundin von mir hat mal ihre Armhaare nicht rasiert. Voll viele haben sie angestarrt, als ob das superekelig wäre. Ich find’s extrem schade, dass so viele ein Idealbild einer Frau haben und uns beleidigen, wenn wir diesem nicht entsprechen.

Tapetenwechsel
Dienstag, 10 Uhr, Bib. Wir sind beide pünktlich und warten an verschiedenen Eingängen aufeinander. Zu meiner Studienzeit gab es nur den einen Haupteingang. Dort wo ich mich einst durch Kant gekämpft habe, liegt inziwischen nur noch ein großer Geröllhaufen. Und die alte Bib ist heute ein architektonischer Blickfang mit zwei Haupteingängen. Eine junge Frau tritt durch die inzwischen automatisierten Glastüren. „Hallo, wie geht’s?“, fragt sie und umarmt mich zur Begrüßung. Dann führt sie mich in den ruhigen Innenhof des Hauptgebäudes. Shengjile ist 24 Jahre alt und studiert Jus. Mit 14 Jahren ist sie mit ihrer Familie aus Nordmazedonien nach Österreich gekommen. „Um ehrlich zu sein, wollte ich zuerst gar nicht hierher. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass es nicht anders geht, und habe mich auf Österreich eingelassen.“ Shengjile lächelt, obwohl die Erinnerungen an diese Zeit nicht gerade leicht wirken. Ohne ein Wort Deutsch zu sprechen und ohne jemanden zu kennen, musste sie direkt in das BORG Dreierschützengasse einsteigen. Doch dann ging auf einmal alles schnell bergauf.

J.AM
„Ich habe das Mädchenzentrum J.AM von mafalda kennen gelernt. Dort habe ich Fußball gespielt und viele Freundinnen gefunden“, erzählt Shengjile. Die Turniere führten sie an viele neue Orte quer durch die Steiermark, bis nach Tschechien. Außerdem hat Shengjile bei J.AM Nachhilfe, einen Rückzugsort und psychologische Beratung gefunden. „Ich bin dort Stammkundin geworden.“ Sie lächelt und streicht sich behutsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Im JA.M hast du die Möglichkeit herauszufinden, was ‚Mädchen und Frausein‘ bedeutet“, steht auf der Website des Mädchenzentrums. Ob Shengjile dort eine Antwort auf diese Frage gefunden hat? – „Ja, auf jeden Fall“, sagt sie, ohne eine Sekunde zu zögern. „Oft hat man draußen in der Welt nicht den Rahmen, um seine Ideen und Gedanken auszudrücken. Bei J.AM hatte ich ihn.“ Beim J.AM Talk gibt es die Möglichkeit, sich einzubringen. Daraus entstehen dann Workshops wie Yoga oder Selbstverteidigung oder Fußball. „Fußball ist ursprünglich kein typischer Mädchensport“, sagt Shengjile. „Uns Mädchen wird oft nicht viel zugetraut, weil wir als zu schwach oder sensibel gelten.“ Bei J.AM hat sie entdeckt, dass sie auch Dinge kann, die Mädchen nicht zugetraut werden.
Selbst im Schatten des riesigen Laubbaums ist es um die 30 Grad heiß. Ich schwitze, obwohl ich versucht habe, mich so freizügig zu kleiden, wie es ein Interview auf dem Universitätscampus eben erlaubt. Shengjile sitzt mir gegenüber, die langärmelige Bluse zugeknöpft, der Rock bodenlang. Die Bluse ist grün, ihre Lieblingsfarbe. „Grün ist so friedlich“, sagt Shengjile. Ich muss an Pinkifizierung denken.

Pink, aber nicht rosig
„Alle Jahre wieder! Am 11. Oktober erstrahlt Österreich in Pink“, heißt es auf der Website der internationalen Kinderhilfsorganisation Plan International. Am Weltmädchentag werden zahlreiche Gebäude, Wahrzeichen und Brücken pink angestrahlt, um symbolisch auf die Diskriminierung von Mädchen aufmerksam zu machen. „Pinkifizierung“ nennt sich diese Kampagne. Doch ist die Farbe Pink dafür wirklich geeignet? „Diese Farbzuordnung ist ein absolutes No-Go“, sagt Shengjile. „Es gibt so viele schöne Farben, warum wird Mädchen nur Pink zugeschrieben?“ Als Kinder trugen ihr Bruder und sie Second-Hand-Kleidung in allen Farben, weil die finanziellen Mittel für eine gezielte Farbauswahl fehlten. Heute kauft sie auch viel in Rottönen, weil sie indirekt dazu gezwungen wird. Denn Mädchen- und Frauenartikel gibt es oft nur in Rosa oder verwandten Farbtönen. Und diese Artikel sind oft auch noch teurer als ihre männlichen Verwandten. Vor ein paar Wochen habe ich mir einen schwarz-blauen Haartrimmer aus der DM-Herrenabteilung geholt, weil das rosa Pendant um ein Drittel mehr gekostet hätte. Die Arbeiterkammer bezeichnet diese „Pink Tax“ als unsichtbare Frauensteuer: „Bei dieser ‚pinken Steuer‘ handelt es sich aber nicht um eine echte Steuer, sondern um einen Aufpreis, den Firmen auf weiblich vermarktete Produkte bzw. Dienstleistungen schlagen.“ Gender-Marketing floriert. Die Diskriminierung zwischen den Supermarktregalen trägt Pink. Außerdem assoziieren wir heute mit Pink Attribute wie Unschuld, Mädchenhaftigkeit, Verniedlichung, Zerbrechlichkeit, Mitgefühl, Fürsorge … Indem wir Mädchen und Frauen pinkifizieren, schreiben wir ihnen erst wieder Eigenschaften zu, die es erleichtern, sie in ein patriarchales Korsett zu zwängen.

Empowert
Doch nicht alles ist von Benachteiligung durchzogen. Shengjile ist der lebende Beweis dafür. „Mein Vater war schon zehn Jahre vor uns in Österreich. Meine Mutter war zu Hause also Mann und Frau zugleich“, erzählt sie. „Deshalb gab es diese Rollentrennung bei uns nicht.“ Auch was sexualisierte Gewalt angeht, blieb Shengjile bisher unbeschadet und wundert sich, weil sie schon oft im dunklen Augarten Fußball gespielt hat. „Vielleicht merkt man dir an, dass du einen Selbstverteidigungskurs gemacht hast“, sage ich ihr. Sengjile lacht. „Vielleicht.“ Für den Kurs und alles andere ist sie mafalda jedenfalls sehr dankbar. „Ich kann allen Mädchen wirklich nur empfehlen, sich dorthin zu wenden. Das ist so ein cooler Ort!“ Bei so viel Lob muss ich fragen: Wurdest du von mafalda bezahlt, um Schleichwerbung zu machen? Wir lachen beide, während wir die Bib entlangspazieren. Shengjiles Rucksack fühlt sich an, als hätte sie Steine eingepackt. Eine echte Jus-Studentin. „Ohne mafalda hätte ich es nie geschafft, hier zu studieren.“ Sie legt den schweren Rucksack ab. Ich freue mich, dass es auch junge Frauen gibt, die das können.

Zukunftsmusik
„Und der Hintern kauft mir viele schöne Sachen
Und dann lädt er mich zum Essen ein
Klar lass ich mich auch ganz ohne Kohle küssen
Doch wenn er meint, das muss so sein, sag ich nicht nein
Weil ich ein Mädchen bin, weil ich ein Mädchen bin … “
Wurde Lucilectric in den 90er Jahren noch dafür gefeiert, dass eine junge Frau so offen über ihr Recht auf Sexualität singt, wirkt der Songtext heute antiquiert bis antifeministisch. Ich denke an das Schulmädchen mit dem Rüschenkragen und der Minimausschultasche. Ihr Kleid war aus einem anderen Jahrhundert! Vieles hat sich seitdem geändert. Vieles und doch viel zu wenig.

Was wünschen wir uns zum Weltmädchentag?
Leonie: Weniger Rollenunterscheidungen, ein Leben auf Augenhöhe, Dates ohne Machtgefälle.
Shengjile: Viel Mut, um den Weg einschlagen zu können, von dem junge Frauen spüren, dass es der richtige ist. Hört auf euer Herz und umgebt euch mit einem guten Kreis!
Leonie: Und Tampons ohne Giftstoffe wären nice. Ich mein, wie lange kann man bitte brauchen, um auf sowas draufzukommen?! So viele Dinge, die für Frauen zugelassen werden, wie die Pille, haben einen Roman an Nebenwirkungen.
Bianca: Ich wünsche mir, dass jeder Feminist wird. Feminismus wird oft schlecht dargestellt, als Männerhass oder so. Dabei geht es uns nur um Gleichberechtigung.
Leonie: Viele Männer kennen die Fakten zwar. Aber weil sie nicht damit leben müssen, können sie es nicht so gut nachempfinden. Deshalb braucht es mehr Berührungspunkte und viele Gespräche mit Frauen.
Bianca: Und ein bisschen logisches Denken kann auch nicht schaden: Was ich für mich nicht will, das tue ich auch keinem anderen an … (lachen)

Am 11. Oktober „feiern“ wir Weltmädchentag. Wer noch nach Geschenk-Inspo sucht, hat sie hier von Leonie, Bianca und Shengjile bekommen. Voilá.
Und was habe ich von dieser Geschichte mitgenommen? Auf jeden Fall, das Gefühl, dass es doch noch etwas Hoffnung auf eine gleichberechtigte Zukunft gibt – denn wie cool sind diese jungen Frauen denn bitte! Und außerdem: die Erkenntnis, dass 12.000 Zeichen wirklich nicht ausreichen, um darüber zu berichten.

Julia Reiter ist von so viel Awareness beeindruckt. Als sie 18 war, gab es für viele Probleme noch nicht mal Begriffe.