Text: Sigrun Karre / Foto: Nikola Milatovic

Wenn die Kunst fort ist, wird es still

Was Künstler__innen dazu bewegt diesmal in eigener Sache auf die Straße zu gehen, was Kunst leistet und warum wir uns Kunst leisten sollten.

2020 ist dieses Jahr, in dem ich mich bereits bis zur Jahresmitte ziemlich häufig daran erinnern musste, wie mein revolutionäres Lebensgefühl während meiner Pseudo-Hippie-Jugend in den vergleichsweise ereignisarmen 1990er Jahren in einem frustrierenden Widerspruch zur Flaute auf den Straßen stand. Mittlerweile, nach fast dreißig Jahren Ruhe vor dem Sturm verliere ich beinahe den Überblick über die Themen und Beweggründe, die Menschen mehr oder weniger medienwirksam auf die Straßen treiben, trotz Corona oder auch Corona zum Trotz.

Am 1. Juli rufen nun österreichische Künstler_innen zum Schweigemarsch am Wiener Heldenplatz auf. Um Fair Pay geht’s da unter anderem und um ein eigenes Ministerium. Und auch medial wird gerade so intensiv wie selten zuvor ein Diskurs über den Stellenwert der Kunst und der Künstler_innen geführt. Wer also sind DIE Künstler_innen? Das lässt sich nämlich tatsächlich nicht in einem Satz formulieren, zu unterschiedlich sind ihre Wirkungsfelder, Arbeitsweisen, Themen, Haltungen und persönlichen Umstände. Immerhin sprechen wir hier von einer „Berufsgruppe“ die quasi das Copyright auf Individualität, temporäres Einzelgängertum und Pionierarbeit für sich beansprucht. Genau das war bisher aber auch eine der Ursachen ihrer existentiellen Probleme. Durch die Corona-Krise machten sich Künstler_innen vermehrt sichtbar und organisierten sich. Nicht zuletzt, weil sie die Ersten waren, die der Lockdown mit voller Wucht traf und die vielfach von einem Tag auf den anderen akut existenzgefährdet waren und immer noch mit Auftrittsverboten konfrontiert sind, was für viele de facto einem Berufsverbot gleichkommt. „Die Ersten werden die Letzten sein.“ bringt die als ungerecht empfundene Situation vieler Künster_innen in Hinblick auf die Corona-Verordnungen auf den Punkt, der daraus resultierende Unmut hat Staatssekretärin Lunacek politisch den Kopf gekostet.

Dass Künstlerl_innen aber auch die Ersten waren, die flexibel und kreativ auf die veränderte Situation reagierten, vermehrt gesellschaftskritisch Stellung bezogen und sich inhaltlich mit der Krise auseinander setzten, mag das Klischee von den im Elfenbeinturm wohnaften Künstler_innen in so manchen weniger kunstaffinen Köpfen zumindest relativiert haben. „Kunst ist Hobby“, der Spruch ist so banal wie inhaltlich unwahr, deutet aber zumindest treffend an, dass ein Großteil der Künstler_innen auch im 21. Jahrhundert traditionell an bzw. unter der Armutsgrenze lebt und in der neoliberalen Leistungsgesellschaft ein Imageproblem hat, während Kunst und Kultur – Achtung Widerspruch – grundsätzlich der Imagepflege dient. Vielleicht hat die coronabedingte „Kunstlücke“ aber auch erstmals einem größeren Teil der Bevölkerung sichtbar gemacht, was uns fehlt, wenn uns eigentlich eh nichts fehlt: Der essentielle Luxus Kunst. Wie sehen das steirische Künstler_innen und wie ist ihrer Situation?

Barbara Carli vom Theater-Kollektiv Rabtaldirndln ist noch unschlüssig ob Kunst das Brot oder doch „nur“ die Butter am Brot ist. Ich erreiche sie während der Proben, was immerhin ein Zeichen dafür ist, dass die Rabtaldirndln offenbar trotz Corona genug zu tun haben. Finanzielle Einbußen brachten vor allem die Absagen von Gastspielen. „Natürlich waren die Absagen enttäuschend. Die Wertschätzung einzelner Veranstalter hat uns aber sehr gefreut und gezeigt, dass man in solchen Situationen auch zusammmenhalten kann“. Am 4. Juli startet eine „Corona-Maßnahmen-konforme“ Wiederaufnahme der Produktion „Du gingst fort“ im Hoftheater Hainersdorf, im September wird die Kulturjahr 2020-Produktion „Die Stadt der Rabtaldirndln“ nachgeholt. „Wenn das nochmal verschoben werden müsste, dann würde es finanziell eng werden, denn Förderungen gibt’s nur, wenn auch aufgeführt wird“ erklärt sie und erzählt vom „1950er-Jahre-Backlash“ ihrer Kollegin Rosi Degen während der Ausgangsbeschränkungen, die es irgendwie schaffte Homeschooling und laufende Verköstigung von drei Kindern mit den Online-Proben und diversen “Hausfrauenarbeiten“ unter den Hut zu bringen. Ein Thema wie gemacht für eine theatrale Klischee-Demontage durch die Rabtaldirndln. In jedem Fall freut sich das Kollektiv wieder auf Live-Publikum. „So wie wir Theater machen und verstehen, funktioniert das nicht online. Aber mal sehen, ob uns das Publikum nach der Corona-Netflix-Party noch zurückhaben will“

„Künstler_innen sind systemerhaltend, es wäre wünschenswert, wenn sich diese Erkenntnis durchsetzt“ meint der Grazer Illustrator und Cross Media-Künstler Jörg Vogeltanz. Er hat Corona bisher finanziell recht gut überstanden, da der Schwerpunkt seiner Arbeit nicht in Zusammenhang mit Veranstaltungen steht. Probleme sieht er unter anderem in der parteipolitischen Abhängigkeit des Fördersystems, in dessen Gremien zudem hauptsächlich Leute sitzen, die selbst im Kulturbereich tätig und damit nicht unabhängig sind. Ihm schwebt ein Ministerium für Kunst, Forschung und Wissenschaft vor. „Das würde gut zusammenpassen, denn auch Kunst ist ihrem Wesen nach ja forschend.“

Ob das auch die Politik so sieht, die Kunst gerne als zweites K von „KuK“, dem quasi touristischen Pickerl „Kunst und Kultur“verkauft und sich die kritische, unbequeme Stimme der Kunst oft lieber vom Leib halten würde? Vielleicht sind Corona und alle damit einhergehenden Probleme für den „Kunstbetrieb“ nicht zuletzt eine riesen Chance, den lange schwelenden Arbeits- und Existenzproblemen innerhalb der Kunstszene tatsächlich Gehör zu verschaffen und einen breiteren und breitenwirksameren Diskurs über ihre gesellschaftliche Relevanz zu starten. Auch das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) für alle ist eine Vision, die nun im Zuge der Corona-Krise insbesondere von Künstlern (auch Jörg Vogeltanz ist seit Jahren ein BGE-Anhänger) trotz erfolglosem Volksbegehren wieder neu belebt wird.

Gefühlt stehen wir als Menschheit derzeit verkatert ohne Führerscheinprüfung am Beginn der Grünphase an einem maximal nebligen Novembertag mit platten Reifen an einer höchst unübersichtlichen Kreuzung, um ein möglichst eingängiges Bild zu bedienen. Stöbert man ein wenig in der (Kunst-)Geschichte, wird (leider oft aus Ignoranz erst rückblickend) die seismographische, häufig visionäre Rolle von Künstler_innen in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche sichtbar. Wenn es brenzlig wird, sollte man gerade nicht bei der Kunst sparen. Oder, wie Barbara Carli im Gespräch Michael Köhlmeier zitierte, der wiederum Churchill zitierte, der sich weigerte während des Krieges das Budget für Kunst und Kultur zu kürzen „Wozu führen wir diesen Krieg denn?“

Unabhängig davon, ob sich ihr Output als Event oder Tourismusattraktion verkaufen lässt und was sie kostet: Gerade weil die Kunst für nichts zu gebrauchen ist, brauchen wir jetzt und eh immer die Kunst.