Interview: Julia Reiter
Fotos: Peter Pataki

„Wenn niemand etwas macht, dann fang‘ ich halt an“

Die weltweite Bewegung „Black Lives Matter“ hat Graz erreicht. Am 6. Juni gingen 10.000 Menschen auf die Straße. Die treibende Kraft dahinter heißt Precious Nnebedum. Julia Reiter traf die junge Grazerin und erfuhr, was es bedeuten kann, in einer rassistischen Welt Schwarz zu sein.

Spätestens seit der Demo kennen viele Menschen dein Gesicht. Schon davor bist du häufig auf der Bühne gestanden – als Poetry Slammerin. Worum geht es in deinen Texten?

Meistens um sehr persönliche Themen: mein Leben und Geschichten, die mir überliefert wurden. Ich denke, ich kann nur über etwas schreiben, das ich kenne. Ich erzähle, wie es ist, als Schwarzes Mädchen in Österreich zu leben, wo überwiegend weiße Menschen sind. Ich beschreibe, wie die Adaptation hier für mich war und immer noch ist. Nigeria ist für mich nicht mehr unbedingt mein Zuhause, aber Österreich auch noch nicht. Obwohl ich seit 10 Jahren hier lebe. Ich befinde mich in einem Zwischenzustand, in dem ich nicht genau weiß. wo ich dazugehöre. Das verarbeite ich sehr gern in meinen Texten.

Wie war es für dich damals, in Österreich anzukommen?

Wir sind am 22. Februar hier angekommen. Das erste was mir aufgefallen ist: Es war überall weiß und so, so kalt. In Nigeria hatte es 42 Grad gehabt, in Österreich minus Fünf. Ich habe mich gefragt, wie die Leute das überleben können. Dann sind wir in die Schule gekommen. Alles war fremd. Wir konnten kein Wort Deutsch. Ich hatte nicht mal realisiert, dass man hier eine andere Sprache spricht. Es war pure Überforderung. Inzwischen habe ich mich an Österreich gewöhnt. Aber es fühlt sich immer noch nicht an wie mein Zuhause.

Liegt das auch daran, dass du durch dein Umfeld immer wieder daran erinnert wirst?

Ja genau. Ich kenne beide Seiten: die einladende und die abweisende. Inzwischen weiß ich auch mehr oder weniger wie ich damit umgehen soll. Ich bleibe dort, wo ich weiß, dass ich willkommen bin und vermeide, wo ich es nicht bin. Ich habe mittlerweile die Vorstellung, dass Zuhause nicht ein Ort ist. Wenn ich mich mit einer Person oder an einem Ort sehr wohl fühle, dann ist das in dem Moment mein Zuhause. Wenn ich weggehe, dann geht mein Zuhause mit mir. Ich versuche den Begriff Heimat nicht an einem Ort zu fixieren, sondern so anzupassen, wie es sich gut anfühlt.

Du lebst nun in einem überwiegend weißen Umfeld. Wie hast du von hier aus die Tötung von George Floyd und die darauffolgenden Protestwellen in den USA wahrgenommen?

Anfangs wollte ich es verdrängen. Obwohl ich das Thema „Black lives Matter“ schon davor oft in meinen Texten behandelt hatte. Schließlich habe ich das Video quasi aus Versehen doch angeschaut. Ich hab ziemlich viel Zeit gebraucht, um es zu verarbeiten. Dafür habe ich auch persönliche Gründe. Ein Großteil meiner Familie lebt in den USA. Und obwohl meine Cousinen und Cousins dort geboren sind, spüren sie Rassismus so als wären sie dort hingezogen. Mein Cousin hat mir erzählt, wie es für Menschen mit dunkler Hautfarbe ist, mit Covid-19 in den USA zu leben. Sie sind das schwächste Glied der Kette. Er arbeitet im Gesundheitswesen und bekommt die direkte Benachteiligung stark mit. Jedes Mal, wenn ich noch ein Bild und noch ein Hashtag zu dem Thema sehe, denke ich sofort an meine Familie und frage mich, wie es ihr geht. Als die Proteste starteten, musste mein Cousin wegziehen, weil er nicht mittendrin sein wollte. Das hab ich verstanden, denn das wollte ich ja anfangs auch. Doch als ich gesehen habe, dass alle protestieren, habe ich mich gefragt, was ich machen kann. Ich hab geschaut, ob es in Graz Aktionen oder Demos dazu gab. Ich fand absolut gar nichts. Ich fragte mich: Wieso? Graz ist Kulturhauptstadt, Stadt der Menschenrechte usw. Und wenn es dann um Diversität geht, gibt es nichts. Ich kenne genug Leute in der Kunstszene, die was hätten machen können. Aber alle waren einfach still. Das hat mich sehr getroffen und ich dachte mir: Wenn niemand etwas macht, dann fang‘ ich halt an. Über Instagram und Whatsapp habe ich herumgefragt und sehr viele Rückmeldungen von Leuten bekommen, die mitmachen wollten. Schließlich wollten sich so viele einbringen, dass ich mich nur drum kümmern musste, dass alles zusammenpasst. Ich war echt gerührt. Innerhalb von ein paar Tagen haben wir alles richtig gut organisiert. Ich bin echt stolz auf Graz.

Du hast angesprochen, dass in den USA überproportional viele Schwarze Menschen an den Folgen von Covid-19 sterben. Die aktuellen Proteste sind vorrangig Reaktion auf Polizeigewalt. Doch die Gewalt gegen People of Color geht viel weiter. Was sind so Dinge, die weniger gut sichtbar sind?

Systematische und strukturelle Diskriminierung. Ein konkretes Beispiel: Vor etwa einem Jahr hat sich mein Papa auf eine Stellenanzeige hin beworben. Beim Telefonat meinte der Arbeitgeber, er würde ihn gerne nehmen. Dann kam mein Papa ins Büro. Noch bevor er sich hinsetzen konnte, meinten die: „Oh, wir nehmen keine Schwarzen Leute auf.“ Ich war echt schockiert. Wie kann sowas 2019 noch passieren? Was können wir dann überhaupt erwarten? Und das ist noch nicht die Spitze. Freund_innen von mir wollen nicht studieren, weil sie es seelisch nicht verkraften, die einzige Person of Color in einer Klasse oder im gesamten Studium zu sein. Das bin ich zum Beispiel. Wir sind 70-80 Leute bei Pflegewissenschaften. Zwei von uns sind ausländischer Herkunft. Ich bin die einzige Person mit dunkler Hautfarbe. Das ist auch deswegen schwierig, weil du dir denkst, du müsstest deine ganze Gruppe oder dein ganzes Volk vertreten. Alles, was du machst, wird direkt auf alle anderen übertragen. Du denkst, ich werde dort niemals repräsentiert werden. Ich werde dort niemals angenommen werden. Ich werde immer in die gleiche Schublade gesteckt werden. Nur weil ich Schwarz bin. Weil das einige Leute nicht verkraften, vermeiden sie es zu studieren oder zu arbeiten. Das ist auch eine Form von Gewalt. Sie lässt Träume sterben.

Was erwartest du dir von Menschen mit weißen Privilegien?

Eine Sensibilisierung in Bezug auf Rassismus. Ich wünsch mir, dass den Menschen überhaupt bewusst wird, dass Rassismus im Alltag vorliegt. Es sollte nicht als selbstverständlich genommen werden, dass man als weißer Mensch einen Job eher bekommt weil man es ja mehr verdient hat. Ganz wichtig ist Bildung: Bücher lesen, Dokus schauen, zu Anti-Rassismus-Workshops gehen, mit Menschen sprechen, Brücken bauen usw. – um Vorurteile zu beseitigen. Die meisten weißen Leute sehen Rassismus nicht. Oder wollen ihn nicht sehen. Natürlich existiert er dann auch nicht für sie. Für uns, die es tagtäglich erleben müssen, ist es etwas Allgegenwärtiges. Erst wenn Menschen sehen, dass es anders ist, als sie dachten, erkennen sie ihr Vorurteil. Ich erwarte nicht, dass Rassismus von heute auf morgen verschwindet, aber, dass wir einen Anfangsschritt setzen.

Wenn wir uns mit Rassismus beschäftigen, liegt der Fokus oft auf der Benachteiligung von „People of Color“ und weniger auf den Privilegien von Weißen. Beim Thema Geschlechtergerechtigkeit werden etwa Frauenquoten am Arbeitsmarkt gefordert. Was hältst du von so einer Herangehensweise für „People of Color?”

Ich denke, das wäre sehr wichtig. Wir könnten jetzt damit anfangen bis so eine Quote irgendwann nicht mehr nötig ist, weil es normal wird. Wir in der POC-community arbeiten jedenfalls gerade daran einen Verein zu gründen. Wir wollen Jugendlichen Mentor_innen aus der gleichen Community zur Seite stellen, an die sie sich wenden können, wenn sie Fragen oder Sorgen haben. Wir wollen etwas bieten, was wir selbst nicht hatten, als wir jünger waren.

Was kommt bei dir auf, wenn du „Integration“ hörst?

Deutschkurs. So zu sprechen wie alle anderen, sich so zu verhalten wie alle anderen

Wie würdest du dir Integration wünschen?

Als meine beiden Geschwister und ich in die Schule kamen, hatten wir liebe Lehrer_innen, die uns im Schulalltag Deutschnachhilfe gaben. Wir mussten nicht separat irgendwo hingehen. Alles war in einem. Wir waren unter unseren Schulfreund_innen. Was ich mir wünschen würde: Weniger Anpassen-müssen, mehr Miteinander.

 

P R E C I O U S

ist Poetin, hat eine Band und einen Podcast. Ihre Mama arbeite in Nigeria als Lehrerin. Ihr Papa als Pharmazeut. Sie selbst studierte Pflegewissenschaften. 2 J A H R E ist Precious alt. Mit 12 kam sie von Lagos nach Voitsberg, heute lebt sie in Graz.Wie die meisten der Megaphon-Verkäufer_innen gehört sie der Ethnie Igbo an.

Das vollständige Gespräch gibt es auch als Podcast zu hören – bei Megaphon mit Ton.