Text: Claudio Niggenkemper
Illustration: Lena Geiregger

Wetten, du verlierst

Sei ein:e Gewinner:in! Im Sport sind Sieg und Niederlage oft mit finanziellem Gewinn und Verlust gleichzusetzen. Sportveranstaltungen ohne Sportwetten sind kaum denkbar. Der Markt boomt. Eine Symbiose, die nur wenige Gewinner:innen hervorbringt und viele Existenzen bedroht. Warum ist das so?

In einem spärlich eingerichteten Raum hängen riesige Bildschirme. Jeder überträgt tonlos eine andere Sportart. Drumherum viele leuchtende Zahlen. Wo sich vor zwei Minuten noch Hände gen Himmel streckten, werden sie nun über dem Kopf zusammengeschlagen. Die Stimmung ist gedrückt, ein resigniertes „Wir hätten es wissen müssen“ fällt. Ein zynisches „Dreckssau“ sorgt für Gelächter, während ein anderer den Kopf senkt. „Wichser“, murmelt er, die Frustration ist greifbar. Gewonnen hat heute wohl niemand. Willkommen im Wettbüro.

Das Aufwärmen
Fangesänge, Public Viewing und das eine oder andere Kaltgetränk. Mitte dieses Monats beginnt die Fußball-Europameisterschaft im Nachbarland Deutschland. Ob, und wie erfolgreich das Turnier für die österreichische Nationalmannschaft verlaufen wird, ist schwer einzuschätzen. Greifbar ist hingegen die Aufregung um DAS Sportevent des Jahres. Events solcher Größenordnung lassen nicht nur die Euphorie derjenigen, die sich für testosterongeladene Zweikämpfe oder theatralische Schwalben interessieren, steigen. Auch die Zahl der Sportwetten steigt. Eine Entwicklung, die nicht zuletzt bei der Weltmeisterschaft 2022 in Katar deutlich wurde. Nirgends fließt mehr Geld in Wetten als im beliebtesten Sport der Welt: etwa 730 Milliarden Euro jährlich.
Das soziale Miteinander ist eine treibende Kraft für die steigende Anzahl von Sportwetten bei Großevents. Denn ob Österreich gegen den haushohen Favoriten Frankreich gewinnt oder nicht, ist für Fans mit Sicherheit spannend – wenn dabei zusätzlich mit Freund:innen um jeden gesetzten Euro mitgefiebert werden kann, steigt die Spannung ins Unermessliche, oder nicht? Ein guter Grund, sich die Sache genauer anzusehen.

Die Aufstellung
Stadtspaziergänge können aufschlussreich sein und den Entdeckergeist wecken. Sie sind sogar so aufschlussreich, dass ein simpler Fußweg, Lendplatz Richtung Augarten, schnell mal augenöffnend wird. Knallige Logos und leuchtende Firmenschriftzüge reihen sich in das Stadtbild ein und schenken einander keinen Meter. Allein zwölf Wettlokale versammeln sich im Annenviertel – mehr als sonstwo in Graz. Den schwarzen Neubau mit rotem tipico-Schriftzug, dem etwas subtileren HAPPYBET und dem wiederum auffälligeren tipwin trennen jeweils nicht einmal 200 m. Das sind weniger als zwei Fußballfelder. In Eggenberg, Gries und Lend sind damit mehr Anlaufstellen als auf der gesamten anderen Murseite stationiert. Zufall? Wohl kaum! Obwohl sich die Statistiken in Details unterscheiden, entspricht die primäre Zielgruppe einem gewissen Prototypen: männlich, junges bis mittleres Alter, einkommensschwach und mit Migrationsgeschichte. Wenig verwunderlich also, dass sich Wettanbieter nicht die teuren Gewerbemieten in Geidorf oder St. Peter leisten. Das nennt man auch zielgruppenorientierte Standortplanung.

Aber zu den harten Fakten: Insgesamt sind in der Steiermark 947 Wettstandorte sowie 603 Wettterminals bewilligt. Dabei ist zu beachten, dass diese Zahl nicht nur klassische Wettbüros beinhaltet. Auch beispielsweise Trafiken, die Wetten anbieten, zählen dazu.

Das Regelwerk
Foul. Elfmeter. Abseits. Grundregeln im Fußball sind simpel. Für die Sportwette sieht es anders aus. In Österreich obliegt die Regulierung von Sportwetten den Bundesländern. Dies führt zu einem System mit neun verschiedenen Gesetzen, was in einem föderalen Durcheinander endet. Eine, und zwar sehr entscheidende Gesetzgebung liegt dieser Struktur zugrunde. Als einzige Nation der Europäischen Union deklariert Österreich die Sportwette nicht als Glücksspiel, sondern als Geschicklichkeitsspiel und stellt sie damit auf eine Stufe mit Schach, Darts oder Flipper. Geschicklichkeitsspiele erfordern eine gewisse Fertigkeit, Koordination oder Strategie, um erfolgreich zu sein – es handelt sich außerdem um Spielarten, die sich durch Training verbessern lassen. Dass dies bei Sportwetten nicht der Fall ist, zeigt unter anderem die vom Finanzministerium 2019 selbst in Auftrag gegebene Studie zum Zufallscharakter und Risikopotenzial von Sportwetten. Im Anschluss an den Bericht änderte sich allerdings nichts: Sportwetten sind weiterhin salonfähig.
Diese Wahrnehmung teilt auch Julia Eckhart, Juristin für Glücksspielrecht: „Klassisches Glücksspiel hat mittlerweile ein negativeres Image. Die Sportwette hingegen nicht.“
Es wird aber noch etwas komplizierter. Viele Wettanbieter, ebenso wie klassische Glücksspielanbieter, haben ihren Firmensitz entgegen der Vermutung nicht in Österreich. Zumeist befindet sich die offizielle Geschäftsanschrift auf Malta, gelegentlich auch in Gibraltar. Wie Julia Eckhart erklärt, macht die Gesetzeslage Malta besonders attraktiv. Das jüngst erlassene Gesetz Bill No. 55 ist das wohl offensichtlichste Beispiel.

Das Gesetz besagt vereinfacht, dass der maltesische Gerichtshof keine ausländischen Urteile anerkennt oder durchsetzt, sofern sich die Urteile gegen Glücksspielunternehmen mit Lizenz in Malta richten. Die Maßnahme kann dabei als eine Reaktion auf die zunehmende Anzahl erfolgreicher Rückzahlungsansprüche von Spieler:innen gegen Glücksspielunternehmen verstanden werden. Rechtserfolge, die auch Julia Eckhart mehrfach erwirkt hat. „Durch das Gesetz können sich Kläger:innen ihren Rechtsanspruch auf Rückzahlung der Verluste zumeist nur an die Wand hängen. Es ist schier aussichtslos, das Geld zurückzubekommen, obwohl die EU vorsieht, Gerichtsurteile wechselseitig anzuerkennen“, so die Rechtsexpertin. Für rechtskräftige Urteile gegen Sportwettunternehmen sieht es nicht anders aus. Betroffene von Sportwettverlusten gehen dank der dortigen Rechtsbiegungen ebenfalls leer aus. „Das Tragische ist, dass Betroffene den Prozess aufgrund einer diagnostizierten Erkrankung gewinnen, jedoch nichts zurückbekommen. Sie sind nicht voll geschäftsfähig, ebenso wie Kinder. Das ist ein moralisches Desaster.“

Halbzeit
Sportwetten sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und hochgradig gefährdend. Da sind sich Expert:innen grundsätzlich einig. Lediglich das Gesetz und die Wettanbieter scheinen anderer Meinung zu sein. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Die Daten der steiermärkischen Fachstelle für Glücksspielsucht zeigen, dass Sportwetten neben klassischen Automatenspielen zu den beliebtesten Formen des Glücksspiels gehören, und der Trend steigt weiter an. Klassisches Glücksspiel und Sportwetten sind eng miteinander verbunden. Oft folgt das eine auf das andere, erklärt Timo Mair, der mit richtigem Namen anders heißt. „Angefangen hat alles im Admiral. In einer Freundesgruppe haben wir dort gern getrunken, gequatscht und Billard gespielt. Irgendwann haben wir zusätzlich zu den Getränken einen Chip geschenkt bekommen, mit dem man eine Runde am Automaten spielen kann. Das haben wir gemacht und natürlich gewonnen.“ Timo Mair war zu diesem Zeitpunkt nicht volljährig – kontrolliert wurde sein Alter nicht. Schnell folgten weitere Spiele und auch so manche Eigeninvestition, erst in klassische Glücksspiele und in weiterer Folge auch in Sportwetten. Insgesamt verbrachte er mehr als ein Jahrzehnt damit, Lohn und Kredite zu verspielen.

„Sei ein Gewinner, heißt es immer in den Werbeclips für Admiral und Co.“ Für Timo Mair ist das rückblickend extrem makaber. Und diese Werbung ist allgegenwärtig. Pro Fußballspiel sind es nach eigener Zählung im Schnitt 8 Werbeschaltungen für Wettanbieter. Eine Sportveranstaltung ohne diese Dauerbeschallung ist kaum denkbar. Und auch Kinder und Jugendliche kommen so beiläufig mit Sportwetten in Kontakt.

Mittlerweile ist Timo Mair in seinen Vierzigern und klagt gegen einen der größten Glücksspiel- und Wettanbieter. Verloren hat er in den vergangenen Jahrzehnten mehrere hunderttausend Euro. Das gesellige Miteinander, das auch Mair beschreibt, macht Wettlokale für viele attraktiv. „Das Wettlokal funktioniert für viele wie ein Wirtshaus; dort versammeln sich Leute, um Fußball zu schauen, weil sie sich das Pay-TV zu Hause nicht leisten können“, unterstreicht auch Monika Idlhammer-Rocha von der Existenzberatung für Glücksspieler:innen und Angehörige

Anpfiff
Fakt ist: Die Zahl der Wettsüchtigen steigt, wenngleich die Anzahl der analogen Anbieter stagniert. Online-Wetten sei Dank! Mit der Entwicklung von Online-Wetten und entsprechenden Smartphone-Apps hat sich das einstige Wochenendritual zu einem rund um die Uhr verfügbaren Angebot verwandelt. Von überall aus und zu jeder Tages- und Nachtzeit können Nutzer:innen nun mitwetten. Selbst wenn hierzulande keine Sportveranstaltung stattfindet, besteht die Möglichkeit, auf Spiele aus der dritten indischen Hockey-Liga zu wetten – eine von zahlreichen Optionen.

Der Selbstversuch hat gezeigt, wie einfach die Registrierung erfolgt. Name, Geburtsdatum und Altersnachweis auf Basis des Geburtsortes reichen aus (geprüft wird das Ganze durch die Plattform selbst). Die Einzahlungsmöglichkeiten sind dabei schier unbegrenzt. Von Bankomat- und Kreditkarten über Online-Bezahlsysteme bis hin zu Gutschein-Codes ist alles möglich.

Hat man alles eingerichtet und sorglos den kleingedruckten AGB und (Sucht-)Gefahrenhinweisen zugestimmt, kann es losgehen. Einzig das Einzahlungs- und Verlustlimit muss noch festgelegt werden – oder man folgt den Vorschlägen der App selbst. Im Fall von tipico beträgt der monatliche „Standardbetrag“ 1000 €. So viel wie der Lohn eines schlecht bezahlten Teilzeitjobs.

„Über das Handy verliert man den Bezug zum Geld. Wenn ich 2000 € im Wettlokal verwette, hat das einen anderen Wert als über die App. Einen möglichen Gewinn setzt man meist direkt wieder auf weitere Spiele“, erklärt Mair aus eigener Erfahrung. Alles sei darauf ausgelegt, immer neue Wetten anzunehmen, erklärt er nüchtern. Der Sport ist nur mehr Mittel zum Zweck. Wie Rechtsanwältin Julia Eckhart zusammenfasst, gehe es für viele Mandant:innen nur darum, irgendeine Wette am Laufen zu halten. Wer wann wo spielt, ist nebensächlich.

Alles auf Angriff
Ein großer Motivator sind Bonussysteme, über die jüngst das deutsche Boulevardblatt BILD munter einen Ratgeber veröffentlichte. Dieser Bonus belohnt Neukund:innen oder Risikospieler:innen, lässt sich jedoch nicht so einfach auszahlen wie typische Gewinne. Von einem erhöhten Risiko spricht man bei sogenannten Kombinationswetten. Jede Wette beinhaltet eine Quote, wonach sich der mögliche Gewinn bemisst. „Kombinationswetten ähneln dem Toto-Spiel der Österreichischen Lotterien, bei dem man versucht, den Ausgang mehrerer Fußballspiele vorherzusagen. Ein Modell, das als Glücksspiel eingestuft wurde. Kombinationswetten hingegen (noch) nicht“, so Julia Eckhart. Derzeit liegt ein Entscheid über diesen Sachverhalt beim Obersten Gerichtshof.

Noch gewähren Wettanbieter einen Bonus, sobald Kombiwetten platziert werden. Das bedeutet, dass zusätzliches Geld zum Gewinn hinzugefügt wird. Allerdings wird dieser Bonus erst ausgezahlt, nachdem er erneut eingesetzt wurde, erklärt Timo Mair. Ein Teufelskreis.

Ein weiterer Anreiz für impulsives Wettverhalten sind Live-Wetten. Neben den unzähligen klassischen Wetten bieten viele Unternehmen Wetten auf spezielle Situationen an. Zum Beispiel: Wer schießt das nächste Tor? Obwohl Live-Wetten überall verboten sind, räumen alle Landesgesetze der Wettform unterschiedliche Ausnahmen ein. In der Steiermark ist die Wette während des Spiels auf das Endergebnis erlaubt. Zusätzlich kann ein Tipp über das nächste Tor abgegeben werden, jedoch nur im Fußball und Eishockey. Warum genau, ist nicht klar.

Die Folge von Live-Kombinationswetten kann verheerend sein. Wie der Redaktion vorliegende interne Wettberichte zeigen, geben Personen teils im Minutentakt neue Wetten ab. Die Einsätze liegen dabei oft im hohen zwei- bis dreistelligen Bereich. Gleiches zeigen Postings von Online-Wett-Communities. Über Facebook-Gruppen oder Telegram-Channels vernetzen sich zigtausende Menschen mit der gleichen Motivation. „Heute auf Risiko gehen und morgen Porsche kaufen!“ oder „Von 10 € auf 5k!“, schreiben User:innen unter geteilte Screenshots von aberwitzigen Kombinationswetten. Ob Personen aus der Industrie selbst die Mitglieder solcher Gruppen pushen, ist nicht auszuschließen. Klar ist: Live- und Kombiwetten verleihen dem Ganzen eine zusätzliche Dosis Spannung.

Abpfiff
Nach dem Abpfiff ist im Wettbüro von der Spannung wenig übrig. Der Traum, mit einer Geste am Terminal eine Wette zu setzen und am Ende mit großem Gewinn wieder heimzukehren, zerplatzt, sobald die Pfeife ertönt – das ist bereits beim einmaligen Besuch spürbar. So schnell man das große Geld gewinnt, so schnell liegt es wieder in den Händen der Wettanbieter. Der Kassenwart tröstet geldzählend die betrübten Gesichter: „Morgen ist ein neuer Tag.“ Wie auch einst für Timo Mair schmälern die Verluste nicht die Hoffnung auf einen erneuten Gewinn, der alles wieder reinholt. Das macht die gefährliche Sogwirkung des Glücksspiels aus.

Selbst diejenigen, die gewinnen, können letztlich nur verlieren. Der wahre Gewinner ist immer das Wettbüro.

CLAUDIO NIGGEN­KEMPER verfolgte zu Schulzeiten seinen damaligen Lieblingsverein Schalke 04 im Wettbüro. Gewettet hat er bis zu dieser Recherche nie.