Interview: Julia Reiter
Fotos: Clemens Nestroy, Markus Weinberg

„Ziviler Ungehorsam ist angesagt“

Die „Mission Lifeline“ rettet in Seenot geratene Geflüchtete im Mittelmeer. Rettungsschiffkapitän Claus-Peter Reisch und NGO-Gründer Axel Steier im Gespräch über ihre Doku „Die Mission der Lifeline“, Lager in Libyen und eine ignorante Politik.

Boote voller Schutzsuchender, die zu sinken beginnen. Beschuss durch libysche Milizen. Der Film „Die Mission der Lifeline“ begleitet euch dabei, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Wie ist die Lage im Mittelmeer momentan, mit welchen Problemen seid ihr konfrontiert?

Claus-Peter Reisch: Zum einen dürfen Schiffe wie unsere Lifeline nicht mehr im Mittelmeer fahren. Zum anderen werden Seenotretterinnen und Seenotretter wie wir kriminalisiert – und das völlig zu Unrecht. Eigentlich müssten jene, die versuchen, die Seenotrettung zu unterbinden, vor Gericht stehen. Es ist genauso anzuprangern, dass die staatlichen Seenotrettungsprogramme im Mittelmeer eingestampft wurden.

Axel Steier: Das Problem ist, dass mit allen bürokratischen und auch rechtsstaatlich fraglichen Mitteln versucht wird, Schiffe davon abzuhalten, aufzubrechen oder anzulegen. Das ist aber nicht das Ende. Es gibt immer Schlupflöcher. Wir suchen nach solchen und fordern alle auf, uns dabei zu unterstützen. Dazu zählt, vor einer Mission nicht zu verraten, mit welchem Boot und wann wir rausfahren. So geben wir den Behörden so wenig Vorsprung wie möglich. Was wir tun, ist legal, was sie tun illegal.

Trotzdem stehen Sie gerade in Malta vor Gericht?

Reisch: Ja. Man bedroht mich mit einer Geldstrafe von bis zu 11.600 Euro und einer Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Monaten. Der Vorwurf lautet, das Schiff sei nicht richtig registriert. Es geht nicht um Beihilfe zur illegalen Einwanderung oder Ähnliches. Es geht einzig und alleine darum, welche Flagge wir am Schiff anbringen dürfen. Eine Formalie.

Steier: Dazu gibt es zehn weitere potenziell Angeklagte in Italien von der Seenotrettungsorganisation „Jugend rettet“. Gefängnis und Geldstrafen sind eine permanente Bedrohung.

Reisch: Auf diese Weise wird nicht nur die Seenotrettung verhindert, sondern auch das Dokumentieren, Alarmieren und Überwachen dieses Seeraumes. Man versucht, das Ganze aus den Medien zu bekommen und einen Vorhang vor dieses Drama zu ziehen, sodass wir in Mitteleuropa nichts mehr davon mitbekommen. Deswegen ist es auch wichtig, dass viele Leute den Film sehen und sich von den Machenschaften nicht beeindrucken lassen.

„Beihilfe zur illegalen Einreise“, „Teil des tödlichen Geschäftsmodells Schlepperei“ oder „illegaler Shuttle-Service“. Es gibt viel Kritik an der Seenotrettung. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz hat Schiffen wie der „Aquarius 2“ von „Ärzte ohne Grenzen“ oder der „SOS Méditerranée“ vorgeworfen, sie hätten nicht nur das Ziel, Leben zu retten, sondern wollten gemeinsam mit den Schlepperinnen und Schleppern Menschen nach Mitteleuropa bringen. Was sagen Sie zu solchen Vorwürfen?

Reisch: Wenn dem so wäre, dann hätte man bereits eine Seenotretterin oder einen Seenotretter wegen Beihilfe zur illegalen Einreise verklagt. Das war bis heute nicht der Fall. Diese Vorwürfe werden gestreut, obwohl man weiß – auch Herr Kurz –, dass sie völlig unhaltbar sind. Ich glaube, dass der Mann keine Ahnung hat, was da auf See abgeht. Wir würden ihn gerne einmal bei uns an Bord der Lifeline begrüßen. Er kann gerne mitfahren und sich selbst ein Urteil bilden. Davor ist es, glaube ich, besser, er hält sich zurück.

Steier: Die größte Hilfe für Schlepperinnen und Schlepper ist eigentlich die Illegalisierung des Grenzübertritts. Man versucht sozusagen, ein Symptom zu bekämpfen, indem man gegen sie vorgeht, und vergisst dabei, dass die eigentliche Ursache darin liegt, dass es keine legale Einreisemöglichkeit gibt. Gerade daran aber haben Politiker/innen wie Herr Kurz kein Interesse. Also ist r der Schlepperhelfer. Die Menschen könnten genauso gut um 250 Euro in ein Flugzeug steigen und nach Wien fliegen.

Manche Kritikerinnen und Kritiker behaupten, viele Menschen würden die gefährliche Mittelmeerüberquerung überhaupt erst wagen, weil sie davon ausgingen, gerettet zu werden. Ist Seenotrettung Mitursache für das Ertrinken?

Steier: Davon gehen Menschen nicht aus. Viele berichten uns, dass die Verhältnisse, die hinter ihnen liegen, so schlimm sind, dass sie, selbst wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ertrinken, trotzdem in das Boot steigen. Wenn man selbst einmal auf dem Mittelmeer war und die Weiten dort gesehen hat, weiß man, dass es reiner Zufall ist, ob wir Boote finden, und wir wissen nicht, wie viele wir nicht gefunden haben.

Reisch: Viele Leute sind zwischen einem halben Jahr und zwei Jahren unterwegs, bis sie überhaupt in Libyen ankommen. Letztlich steigen viele Menschen ja nicht einmal freiwillig in die Boote ein. Teilweise haben sie noch nie das Meer gesehen. Dann stehen sie nachts am Strand und sehen das Wasser, hören die Geräusche und haben Angst. Und wenn sie sich womöglich weigern einzusteigen, werden am Strand zwei, drei erschossen. Dann gibt der Rest schon nach. Für viele ist es tatsächlich so: Hauptsache weg. Mit Asyltourismus hat das nichts zu tun. Wäre an dem Vorwurf etwas dran, müssten außerdem gerade in der Zeit, in der die NGO-Seenotrettungsschiffe nicht fahren, weniger Flüchtlinge unterwegs sein. Das krasse Gegenteil ist der Fall. Im Übrigen müssen wir auch eines festhalten: 40 Prozent der Rettungen zwischen 2016 und 2018 sind von NGOs durchgeführt worden, 60 Prozent von der Handelsschifffahrt und der Marine. Auf den NGOs lässt sich halt am einfachsten rumhacken.

Was spricht dagegen, die geretteten Menschen nach Libyen zurückzubringen?

Steier: In Afrika gibt es keine sicheren Häfen. Das ist einfach ein Hirngespinst. Wer behauptet, man könne dort Lager aufmachen, spricht von Konzentrationslagern. Die Menschenrechte können dort nicht eingehalten werden.

Reisch: Wenn Herr Kurz wider besseren Wissens behauptet, man könne die Leute nach Libyen zurückschicken, sollte er erstens einmal die Genfer Flüchtlingskonvention lesen. Zweitens sollte er sich einmal mit SOLAS (Anm.: Safety of Life at Sea; eine UN-Konvention zur Schiffssicherheit) beschäftigen. Und drittens suchen wir uns den Anlegehafen nicht selbst aus. Diese Häfen werden in der Regel durch die Seenotleitstelle mit Sitz in Rom zugewiesen.

Welche Rolle spielt die EU in Bezug auf die Lager in Libyen?

Steier: Die EU finanziert diese Lager – Lager, die durch Milizen betrieben werden und aus welchen sich die Menschen nur durch Lösegeldzahlungen befreien können. Das Fingerzeigen auf NGOs dient nur dazu, vom eigenen schändlichen Handeln abzulenken: der Finanzierung und Unterstützung von Menschrechtsverstößen. Die libysche Küstenwache wird von Italien finanziert und mit Booten versorgt, die Küstenwächterinnen und Küstenwächter werden ausgebildet, die Logistik wird unterstützt. Das sind illegale Handlungen. Das sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir fragen uns, warum der internationale Strafgerichtshof noch keine Ermittlungen dagegen anstellt. Menschen haben ein Recht auf Flucht. Auf der Website der „Mission Lifeline“ steht: „Wir sehen dem Sterben der Menschen im Mittelmeer nicht tatenlos zu, während eine menschliche und politische Lösung auf sich warten lässt.“ Wie könnte eine solche Lösung aussehen?

Steier: Den Menschen müsste die Einreise auf einer Fähre oder im Flugzeug gestattet werden. Danach müssten sie in Europa einer Asylprüfung unterzogen werden. Die Standards dafür sollten neu diskutiert werden. Wir sollten uns fragen: Haben wir nicht Mitschuld, wenn zum Beispiel irgendwo eine Dürre ausbricht? Zumindest muss dieser Asylantrag in sicherem Territorium gestellt werden können, nicht in unsicherem oder gar einem Konzentrationslager. Kurz gesagt: Ein legaler Fluchtweg wäre die erste Lösung. Die zweite wäre, Fluchtursachen in Angriff zu nehmen, indem man etwa keine Waffen mehr exportiert. Als kurzfristige Lösung sollte es eine staatlich organisierte Seenotrettung geben. Wenigstens sollten die NGOs nicht behindert werden. Inwiefern hat sich Ihr Leben durch die Missionen der Lifeline verändert?

Reisch: Aus der Berufung ist ein Stück weit ein Beruf geworden. Es ist schon sehr besitzergreifend. Mit Hobby hat das schier nichts mehr zu tun. Steier: Leider sind wir aber viel zu selten auf dem Meer, da heute so viel Organisatorisches dazukommt. Früher war das anders. Da haben wir uns ein Schiff gekauft, es repariert und sind rausgefahren. 2017 sind wir fünf Missionen am Stück gefahren. Jetzt hat sich das verlagert. Aufgrund der behördlichen Einschränkungen sind wir viel mehr an Land tätig, um unsere Missionen vorzubereiten.

Wird Ihr Einsatz da nicht zum unmöglichen Kampf?

Steier: Zum Glück entstehen zu den Einschränkungen auch Gegenbewegungen. Ich möchte an 2015 erinnern, als sich in Budapest am Bahnhof ganz viele Geflüchtete eingefunden haben. In einer Aktion am 5. September haben 2000 Leute beschlossen sich über alles hinwegzusetzen, die Geflüchteten mit dem Auto abzuholen und raus aus Ungarn nach Österreich in Sicherheit zu bringen. Da ist der Staat eingeknickt. Die Folge war, dass die Geflüchteten eine Zeit lang mit dem Zug fahren konnten. Genau so eine Situation muss aus meiner Sicht erzeugt werden – eine Situation, in der ein Staat nicht anders kann, als 2000 Leute nicht einzusperren. Solange da draußen so wenige Seenotretterinnen und Seenotretter sind, fällt es dem Staat relativ leicht, uns zu unterbinden. Aber sobald 100 Yachten Richtung Libyen losfahren, will ich mal sehen, was passiert. Ziviler Ungehorsam ist angesagt.