Freundschaft
verändert alles

Diesmal: Chibuike Ihemeje
Aufgezeichnet von Anna Maria Steiner
Foto: Arno Friebes
Megaphon 10/2019

Chibuike bedeutet „Gott ist meine Stärke“ – und die erfahre ich täglich, seit ich im Mai 1990 das Licht der Welt erblickte. Nächstes Jahr feiere ich meinen 30. Geburtstag – ich denke, an diesem Tag werde ich kein Megaphon verkaufen, sondern werde mir frei nehmen und mit Freunden Zeit verbringen. Jeder Geburtstag ist ein spezieller Tag für mich, nicht nur weil er an meine Geburt erinnert, sondern auch daran, dass ich Freunde habe. An diesen Tag bekomme ich Geschenke – vor allem Glückwunschkarten liebe ich. Am Geburtstag feiere ich, dass ich geboren wurde und dass ich noch am Leben bin. Und das ist alles andere als selbstverständlich.

Denn in meinem Herkunftsland Nigeria habe ich schwere Zeiten erlebt. Als vorletztes von acht Kindern wuchs ich mit zwei Brüdern und vier Schwestern auf – bis plötzlich Hass und Tod über uns hereingebrochen sind. „Boko Haram“ hat mich verfolgt, weil ich gläubiger Christ bin und anderen davon erzählte. Mitglieder dieser Terror-Gruppe haben meinen Vater umgebracht. Meine Mutter und der Großteil meiner Geschwister leben noch im Norden von Nigeria, doch die Gefahr ist groß, weil die Terroristen dort noch immer wüten. Mittlerweile bekämpfen sie neben Christen auch Muslime. Nach der Ermordung meines Vaters war auch ich in Lebensgefahr und bin geflüchtet. 2009 – auf den Monat genau zehn Jahre ist es jetzt her, dass ich nach Österreich gekommen bin. Anfangs war es für mich hier schwer: Erst 19 Jahre alt, trauerte ich um meinen toten Vater und lebte ohne jemanden zu kennen hier in der Steiermark. Ich wusste, dass ich nicht zurück nach Hause kann, doch in Bruck an der Mur war ich allein. Geändert hat sich alles mit dem Tag, an dem ich Freunde fand. Ich sage immer: „Gott war gnädig“ und hat, gemäß der Bedeutung meines Namens „Chibuike“, mir seine Stärke geoffenbart: Er hat mich Freunde finden lassen, und das verändert alles.

Seit drei Monaten verkaufe ich das Megaphon in Graz. Oft, wenn ich so stehe vor dem Billa in der Mariatroster-Straße, beobachte ich vorbeifahrende Autos und die Menschen, die vorübergehen. Ich mag es, wie die Leute leben in diesem Land. Sie sind geduldig, haben Durchhaltevermögen – seit ich in Österreich bin, habe ich viel von den Menschen hier gelernt. Freundlich sind sie und großzügig. Um die Weihnachtszeit machen sie einander Geschenke – sogar für mich haben sie dann ein Paket. Und noch etwas mag ich an den Menschen hier: ihre Pünktlichkeit. Wer in Österreich lebt, der sollte nicht zu spät kommen – das hab ich schnell gelernt. Anfangs konnte ich die Zeit nie einhalten, doch das habe ich mir bald abgewöhnt. Heute mag ich es, selbst pünktlich zu sein. Das gibt Struktur. Wenn ich mit jemandem einen Zeitpunkt vereinbart habe, bin ich immer schon fünf Minuten früher dort. Ein guter Umgang mit der Zeit ist wichtig. Jeden Morgen um fünf Uhr stehe ich auf, gehe ins Bad und wasche mich. Um viertel vor acht gehe ich außer Haus und fahre mit dem Bus in die Mariatroster- Straße, wo ich das Megaphon verkaufe. In der Zeit zwischen Aufstehen und Außer-Haus-Gehen lese ich täglich einen Text, der mich durch den Tag begleitet – eine Art „Gedanken für den Tag“ oder „Morgenandacht“. Heute waren es die Zeilen: „Lehre mich, einfühlsam zu sein gegenüber allen Lebewesen, Geduld zu haben und die Stimme nicht gegen andere zu erheben – selbst dann nicht, wenn sie schlechte Dinge sagen oder dich beschuldigen.“ Texte wie diese helfen mir während des Tages – auch beim Megaphon-Verkaufen, denn nicht immer sind alle Menschen, denen ich begegne, freundlich. Der Großteil allerdings, das muss ich
sagen, ist nett – wie etwa der Chef vom Billa an meinem Verkaufsstandort, und alle seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und auch die meisten Käuferinnen und Käufer sprechen so zu mir, als ob wir schon viele Jahre Freunde wären. Was ich ihnen allen sagen will: „Ihr, die ihr das Megaphon kauft, lest oder verschenkt, ihr alle seid gute Menschen, und ihr helft. Durch Menschen wie euch konnte ich Fuß fassen in diesem Land.“ Kann ich erst besser Deutsch und habe ich die erforderlichen Unterlagen, kann ich auch mit einer anderen Arbeit Geld verdienen. Doch bis dahin danke ich allen, die das Megaphon erwerben – oft an mehreren Standorten, um uns Verkäuferinnen und Verkäufer zu unterstützen. Wenn ich sage „Gott schütze Sie“, dann meine ich das ehrlich und bin überzeugt davon, dass diejenigen, die unsere Straßenzeitung von mir und anderen kaufen, gesegnet sind. Begegnungen verändern einfach alles im Leben.