Text: Anna Maria Steiner
Dolmetscherin: Moni Bittermann
Fotos: Valerie Maltseva

Irena Balog

Ruhig, achtsam und stets ein Lächeln im Gesicht: Seit Herbst verkauft Irena Balog am Hasnerplatz das „Megaphon“. In der Mur-Stadt ist die gebürtige Slowakin schon seit beinah zwei Jahrzehnten. So gern Irena heute auch in hier ist, so schwer waren für sie die ersten Tage in Graz

Schweres Schicksal

Wenn man Irena nach ihrem ersten Tag in Graz fragt, wird ihr Blick ernst. „Daran habe ich schlimme Erinnerungen“, erzählt sie. Kurz zuvor hatte sie in ihrer Heimat Slowakei den Job verloren. Als ihre Tochter ein beeinträchtigtes Kind zur Welt bringt, geht Irena schließlich als Arbeitsmigrantin nach Österreich. „Bis zum Ende des Kommunismus habe ich auf einem landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet“, erzählt sie. Mehr als siebzehn Jahre betreute Irena Nutztiere und Pflanzen, doch mit dem „Eisernen Vorhang“ fiel Anfang der 1990er-Jahre auch das Prinzip der Vollbeschäftigung. Da stand sie nun, die knapp Vierzigjährige, zweifache Mutter, die ihr beeinträchtigtes Enkelkind unterstützen wollte und nicht konnte. „In der Slowakei sind Medikamente teuer, und für Menschen wie mich gibt es keine Jobs.“ Irena ist Romni, laut Reisepass Ungarin und hat es als Angehörige von gleich zwei Minderheiten doppelt schwer.

Tränen und Scham

Angekommen in Graz, Irena schnell klar, dass für sie kaum die Möglichkeit besteht, legal zu Geld zu kommen. „Das erste Mal betteln war schlimm für mich. ‚Du musst dich dabei niederknien‘, rieten mir die anderen Frauen. Ich hab‘s gemacht und dabei geweint – so sehr habe ich mich geschämt.“ Die Hand aufhalten und um Almosen zu bitten bleibt Irenas einzige Einnahmequelle für 18 Jahre. Vier Wochen am Stück bleibt sie in Graz, zwei Wochen lebt sie in der Slowakei und hilft ihrer Tochter, die mittlerweile drei Kinder hat, von denen ein weiteres geistig behindert ist. Mittlerweile hat auch Irenas Sohn eine Familie gegründet und ist Vater von zwei Mädchen und einem Buben. Als die drei höhere Schulen besuchen wollen, ist der Vater erst dagegen. Die Familie lebt am Land, fernab von Unis und Akademien. Auch in der Slowakei kostet Bildung Geld – Geld, das Irenas Sohn als Rom nicht aufbringen kann. „Mein Sohn ist Tischler, doch nach seinem Lehrabschluss und dem Militär-Präsenzdienst bekam er keine Arbeit“, sagt Irena und fügt nach einer kleinen Pause hinzu: „Für ‚Zigeuner‘ gibt es eben keine Arbeit in der Slowakei.“ Als ich verdutzt drein schaue, erklärt Dolmetscherin Moni Bittermann: „Man muss es einfach in dieser Schärfe sagen: So ist die Realität für Roma in Osteuropa.“

Romni, Ungarin oder Slowakin: Als was sie sich denn sehe, frage ich Irena und erfahre, dass sie Ungarisch sprechen würde, Slowakisch, jedoch kein Romanes. EU-Bürgerin darf Irena gemäß Artikel 45 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union in jedem anderen EU-Land Arbeit suchen und einen Job annehmen. Jedenfalls in der Theorie.

Vertrauen ist wunderbar

In den 19 Jahren, seit denen sie in Graz ist, habe sich viel geändert, erzählt Irena. „Heutzutage sind die Menschen feinfühliger. Sie bringen mir Verständnis entgegen, beschimpfen mich nicht mehr.“ Gerade am Hasnerplatz sei das so, wo Irena wochentags anzutreffen ist. „Sie können sich nicht vorstellen, wie gerne mich die Menschen haben, und umgekehrt ist es genauso“, übersetzt die Dolmetscherin Irenas Worte. „Sehe ich, dass jemand auf der Straße etwas verloren hat, gebe ich es gleich im Bioladen ab.“ Mobiltelefone, Geldtaschen und mehr habe sie schon gefunden, am Gehsteig und zwischen den Straßenbahnschienen. Bei den Öffi-Fahrten und beim Einkaufen hätten es viele eben eilig, erklärt Irena. „Was mich am allermeisten berührt, ist, dass die Menschen mir vertrauen. Oft stellen sie ihre Tasche bei mir ab, wenn sie in die umliegenden Geschäfte gehen. Dieses Vertrauen gibt mir ein ganz besonderes Gefühl, und das ist wunderbar.“

Bildung durchbricht Armut

Irena bekommt Vertraue, und sie schenkt es: etwa ihren Enkelkindern, die sie seit Jahren finanziell beim Lernen unterstützt. Die älteste Enkeltochter sei bald Lehrerin, die zweite Kindergartenpädagogin, und der Enkelsohn wird nach der kürzlich bestandenen Matura auf die Polizeischule gehen, erzählt sie. Als ihr Sohn die Kinder erst nicht auf weiterführende Schulen und Akademien schicken will, mischt sich Irena ein. „‚Lass sie‘, hab ich ihm gesagt. ‚Wir werden das finanziell schon schaffen.‘“ Seit dem teilen sich Irena und ihr Sohn, der auch in Graz ist, die Kosten für die Ausbildung der drei. „Bis jetzt geht es sich aus, und 120 Euro im Monat bekommen die drei außerdem als Leistungsstipendium vom Staat“, erzählt Irena und strahlt. Ob ihr bewusst sei, dass sie mit ihrer Unterstützung den familiären Armutskreislauf durchbricht? Irena lächelt. Auf die studierenden Enkel ist sie sichtlich stolz – auch, wenn die Drei ihre Volksgruppen-Zugehörigkeit im Studienalltag verschweigen würden. „In der Schule haben meine Enkel noch nie ein Wort auf Ungarisch gesprochen“, sagt sie. „Niemand soll erfahren, dass sie Roma sind.“

Herzen aus Gold

Zurück am Hasnerplatz. Vor dem Bioladen „Kornwaage“ stellt Irena ihr Damenfahrrad ab, das ihr eine Studentin „einfach so“ geschenkt hat. Sie nimmt den Platz neben der Haltestelle ein, der zu ihrem Sitzplatz geworden ist, holt sich aus dem Bioladen eine Tasse Tee und grüßt freundlich Passant:innen. Seit November letzten Jahres verkauft Irena hier die Straßenzeitung, spricht ein wenig und schenkt in Zeiten des Pandemie-bedingten Masken-Tragens ein Lächeln mit ihren Augen. Ob sie noch etwas sagen möchte, am Schluss unseres Gespräches?, frage ich. Irena nickt. „Ich wünsche allen Menschen Gesundheit. Und ich möchte mich bedanken: bei allen am Hasnerplatz und in den Bezirken Geidorf und Andritz: Die Grazer:innen haben ein goldenes Herz. Vor allem danke ich den jungen Leuten in der ‚Kornwaage‘. Von ihnen bekomme ich jeden Tag zu trinken, zu Essen und ganz viel Liebe.“