Fotos: Marija Kanizaj
Mitarbeit: Peter k. wagner

Morgen mach ich blau…

… heißt es für Ronald Frühwirth Ende November. Dann wird aus dem profiliertesten Asylanwalt des Landes ein Vollzeitvater – und wohl auch ein Aktivist. Wie konnte es so weit kommen? Unsere Autorin Sigrun Karre ist Frühwirth mehrmals begegnet – ehrenamtlich und professionell. Und sucht für uns die Antwort.

Nazir (Name von der Redaktion geändert), 25, ist Afghane, wobei das in Afghanistan nicht alle so sehen. Er gehört zur Volksgruppe der Hazara, deren Angehörige als Minderheit diskriminiert und verfolgt werden. Neben Farsi spricht Nazir mittlerweile gut Deutsch, sein Englisch ist perfekt. In Afghanistan hatte er einen relativ gut bezahlten Job bei einer amerikanischen Firma, bevor die Taliban ihn mit dem Tod bedrohten und ihm mit einer Kalaschnikow den Arm brachen. Das hatte neben seiner Ethnie, dem amerikanischen Arbeitgeber und seinem westlich orientierten Lebensstil auch mit einem Verwandten zu tun, der zum Christentum konvertiert ist. 2015 kam Nazir nach Europa und landete in Graz. Anfang 2018 erhält er seinen ersten negativen Bescheid. Neuerdings, erfahre ich zu dieser Zeit, bekommen ausnahmslos alle Afghanen in erster Instanz „negativ“. Im November desselben Jahres wird die New York Times von einer aktuell stattfindenden Flucht tausender Hazara vor den Taliban berichten. Ein Fortsetzungskapitel in der langen Geschichte der Unterdrückung, Vertreibung und des Genozids dieser überdurchschnittlich gebildeten Volksgruppe. Im Rahmen meiner damaligen Nebentätigkeit bei einem gemeinnützigen Verein begleite ich Nazir zum Anwalt. Ronald Frühwirth kommt uns am Eingang entgegen, er betreibt eine von nur zwei Kanzleien in Graz, die auf Asylrecht spezialisiert sind.

Sein ungewöhnlich offener Blick wird mir in Erinnerung bleiben. Der zum damaligen Zeitpunkt 37-jährige Anwalt gilt als Koryphäe im Asylrecht. Erklärbar ist das mit außerordentlicher Zielstrebigkeit und hohem Idealismus. Frühwirth beginnt bereits als Jugendlicher, sich bei Amnesty International zu engagieren. Der frühe Wunsch, Anwalt zu werden, entspringt nicht hedonistischen Karriereträumen, sondern dem Wunsch nach Gerechtigkeit.

Ronald Frühwirth stellt Nazir Fragen. Empathisch, zugleich fokussiert. Notiert. Nazir krempelt seinen Hemdsärmel hoch. Die Verletzung muss massiv gewesen sein, lauter Narben und ein Knochenbruch, der ohne OP offensichtlich nicht richtig geheilt ist. Ronald Frühwirth nimmt den Fall an und beeinsprucht den erstinstanzlichen Negativ-Bescheid. Ich freue mich mit Nazir. Ronald Frühwirth ist kein Anwalt, der falsche Hoffnung gegen Honorar verkauft. Es ist bekannt, dass er nur Fälle übernimmt, die nicht als aussichtslos gelten. Im Juni 2019 schreibt mir Nazir, mit dem der Kontakt zuletzt spärlich war. Ich arbeite mittlerweile nicht mehr für den Verein, dem die Gelder gekürzt wurden. Sein zweiter Bescheid sei negativ. Er hätte ein Gespräch mit Ronald Frühwirth, ob ich ihn begleite. Wieder empfängt uns Ronald Frühwirth im Vorzimmer. Er wirkt reserviert. Die raumhohe Zimmerpflanze im Besprechungsraum scheint zu schwächeln. Blätter liegen am Boden. Herbststimmung im Juni. Im Raum ist es dunkel, aber das liegt vielleicht daran, dass niemand auf die Idee kommt, das Licht aufzudrehen. Negativ also. Was nun? „Ich kann nichts mehr für Sie tun.“ Nazirs Blick sucht den von Ronald Frühwirth, es ist dieser bis an die Schmerzgrenze konzentrierte Blick, der versucht, ein Indiz dafür zu finden, dass es noch nicht vorbei ist.

Jahrelang wollte er alles richtig machen. Ronald Frühwirth macht ihm keine Hoffnung mehr, eine Anrufung des Höchstgerichts sei aussichtslos. Er verlässt kurz den Raum, um Unterlagen zu kopieren. „Du sprichst mittlerweile sehr gut Deutsch, Nazir …“ Was für eine gedankenlose Taktlosigkeit. Er bedankt sich trotzdem mit einem verlegenen Lächeln. Höflich wie immer. Eine Situation, in der es keine richtigen Worte geben kann. Wir reden trotzdem; darüber wie man mit Widrigkeiten im Leben umgeht, die sich nicht ändern lassen. Reine Theorie. Resilienz mag in der Bobo-Welt gerade angesagt sein, es ist keine brauchbare Überlebensstrategie für eine Rückkehr in ein Bürgerkriegs-Land. Wir reden über ein Bildungsprojekt, an dem er federführend ehrenamtlich mitgearbeitet hat. Wir tun so, als ob alles ist wie bisher. Freier Fall mit innerlich geschlossenen Augen. Ronald Frühwirth ist zurück. Auf knapp 100 (!) Seiten ist der Bescheid juristisch wasserdicht argumentiert, da hat sich jemand viel Arbeit gemacht. Um anderen mit Akribie die Arbeit und das Leben schwerzumachen? Die Situation ist unwirklich. Konfusion und Ernüchterung spielen Pingpong. Nazir verlässt mit dem Bescheid unterm Arm, in dem nichts steht, was er verstehen kann, die Kanzlei. Auch ich verstehe die Welt nicht mehr. Die letzten Anschläge in Afghanistan sind noch keine Woche her. Ronald Frühwirth ist die Wut und Enttäuschung anzusehen. „Es waren irgendwann zu viele, denen ich diese Botschaft überbringen musste“, wird er später erzählen. Nazir und ich stehen noch eine halbe Stunde auf der Straße, unfähig zu entscheiden, ob wir auf einen Kaffee gehen sollen oder nicht oder ob wir überhaupt wieder in ein chronologisches Zeitgefühl zurückfinden. Wir haben den Faden verloren. Als ob sich jede Idee von Zukunft mit dem Boden unter den Füßen im Verkehrslärm um uns aufgelöst hat. Wir vertagen den Kaffeehausbesuch und wissen zugleich, dass er vielleicht nie mehr stattfinden wird. Was Nazir nun durchmacht, kann man nicht verstehen, wenn man nicht an seiner Stelle ist.

Ein paar Wochen später ist es offiziell, Frühwirth wirft das Handtuch mit klaren Worten: „Ich will nicht mehr Teil dieses Systems sein.“ Die heimischen Medien berichten, das Rauschen im Blätterwald erreicht auch Deutschland. Wir treffen ihn, nachdem wieder etwas Ruhe eingekehrt ist. Ruhe herrscht auch in seinem Büro. Er beschäftigt keine Mitarbeiter mehr, also empfängt Ronald Frühwirth auch diesmal meinen Kollegen und mich persönlich. Es sind die letzten Wochen seiner Tätigkeit als Anwalt. Er nimmt sich über eine Stunde für das Megaphon Zeit, dem er durch seine frühere Tätigkeit als ehrenamtlicher Kolumnist verbunden ist.

Einerseits ist das Asylrecht hochkomplex, andererseits scheint es schwammig zu sein bzw. scheinen Entscheidungen vom Goodwill von Einzelpersonen abzuhängen. Wie lässt sich das Laien erklären?

Ein Asylverfahren findet auf drei Ebenen statt. Die erste ist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, das dem Innenministerium unterstellt ist. Hier ist eine hohe Fehlerquote zu finden, da stimmt die Qualität nicht. „Wenn man würfeln würde, wären die Entscheidungen richtiger“, hat das Asylexperte Christoph Riedl von der Diakonie letztes Jahr auf den Punkt gebracht. Die zweite Ebene ist die Beschwerdeinstanz, das Bundesverwaltungsgericht. Das ist die Ebene, die grundsätzlich funktioniert. Allerdings gibt es keine einheitliche Rechtsprechung, über 200 Richterinnen und Richter, darunter eben auch Hardliner, sind hier aktiv, die Qualität ist durchwachsen. Und dann gibt es die Höchstgerichtsbarkeit. Die wäre dazu da, Fehler, die auf zweiter Ebene passieren, zu beheben. Genau das geschieht nicht mehr.

Wie erklären Sie sich das?

Als im Jahr 2015 plötzlich deutlich mehr Menschen als davor nach Europa kamen, ist das System in der Folge so hart geworden. Das Problem ist also erstmal systemimmanent. Die Aufgabe von Höchstgerichten wäre es unter anderem, eben da regulativ zu wirken, dazu bräuchte es ein Mindestmaß an rechtlich begründeten Entscheidungen, an denen man sich orientieren kann. Grundrechtliche Argumente sollten mehr zählen als politisch opportune. Konkret: Unabhängig davon, wie viele Menschen diesen Anspruch geltend machen, muss der Anspruch auf Asyl bzw. subsidiären Schutz gewährt werden. Rückblickend drängt sich der Eindruck auf, dass die FPÖ das Höchstgericht klug und subtil auf Linie gebracht hat. So hat Strache Ende 2017 angemerkt, sie überlegen den Zugang zum Verwaltungsgerichtshof in Asylsachen abzuschaffen. Als Vizekanzler hat er dann dem Höchstgericht gedroht, ihm ein Viertel der Fälle wegzunehmen. Diesem „lauten Nachdenken“ ist keine Diskussion oder Gesetzesänderung gefolgt. Da ist das Höchstgericht wohl eingeknickt.

Gibt es konkrete Lösungsvorschläge?

Im Asylrecht gibt es insgesamt natürlich viele Baustellen, eine aus meiner Sicht jedoch dringend zu diskutierende Schlüsselrolle hat wie erwähnt das Höchstgericht. Warum ist es unmöglich, eine formal richtige Revision zu verfassen, und was bedeutet das für einen Rechtsstaat, wenn die Hürde so hoch liegt, dass man dort einer Willkür ausgesetzt ist? Eine Kritik am Höchstgericht ist bis dato tabu und wird mit einer Kritik am Rechtsstaat gleichgesetzt. Ich behaupte, es ist genau andersrum. In Wahrheit benötigt ein funktionierender Rechtsstaat sachliche und gerechtfertigte Kritik am Höchstgericht. Gerade im Asylbereich gibt es da in Österreich auch keine wissenschaftliche Auseinandersetzung, obwohl es eine der Hauptaufgaben der Rechtswissenschaft ist, Rechtsentwicklung kritisch zu reflektieren. Ich habe versucht, die mediale Aufmerksamkeit nach meiner Kanzleischließung dafür zu nützen, darüber eine Diskussion anzustoßen. Allerdings ist sie bisher nicht weit gediehen, niemand hat z.B. das Höchstgericht zur Kritik befragt. Ich werde alles daransetzen, diese Diskussion auf politischer und juristischer Ebene am Köcheln zu halten. An meinem Ziel, jenen zu ihrem Recht zu verhelfen, die im System durch den Rost fallen, bin ich als Anwalt gescheitert. Vielleicht kann ich zumindest meinen Abgang konstruktiv nützen und etwas bewirken.

Man solle, wenn es um Asyl geht, sich nicht von Gefühlen leiten lassen, argumentieren die, die Mitgefühl für höchst gefährlich und naiv halten. Als ob unsere Welt den Eindruck macht, an einem Überfluss an Empathie zugrunde zu gehen, und nicht an deren Mangel. Auch Fakten, Zahlen und Logik bringen einen nicht weiter. Asyl ist ein Menschenrecht. Wie kommt es, dass die gleichen, unveränderten Gesetze innerhalb weniger Jahre plötzlich in vergleichbaren Fällen zu anderen Urteilen führen? Wieso ist die Statistik eine vollkommen andere als noch vor wenigen Jahren?

„Derzeit kann ich niemandem empfehlen, in Österreich um Asyl anzusuchen“, so Frühwirth. Was vielleicht am meisten frustriert, ist, dass diese Bilanz eines der ehemals renommiertesten Asyl-Anwälte des Landes, genau die Botschaft indirekt mitliefert, die die österreichische Politik aussenden möchte: „Hier bekommt ihr keine Hilfe.“ Als Jurist und Anwalt sieht Ronald Frühwirth nach 15 intensiven Jahren für sich keinen Spielraum mehr, um etwas zu bewirken. Oder wie er es sagt: „Recht muss in meinem Verständnis einen Ausgleich zwischen Machtinteressen schaffen. Das funktioniert in Österreich im Asylbereich nicht. Derzeit rennt das Recht der Macht hintennach.“ Noch überwiege die Enttäuschung, aber der Tatendrang blitzte schon wieder kurz in seinen Augen auf. „Ich werd‘ ja meinen Mund eh net halten.“ Vom Dasein als „biedermeierlicher“ Bio-Bauer träumt Frühwirth jedenfalls nicht, dann schon eher von Aktivismus bei der Sea-Watch. „Entweder es gibt ein gutes Leben für alle, oder es gibt kein gutes Leben“, so artikuliert es Star-Regisseur mit Weltveränderungsambitionen Milo Rau. Ronald Frühwirth brachte im Gespräch die gleiche Weltsicht etwas dringlicher rüber: „So nur auf sich und sein eigenes privates Lebensglück schauen, eine solche Haltung macht mich ehrlich gesagt grantig. Weil man muss bitte irgendwas tun, damit diese Welt besser wird, weil die ist echt scheiße!“