Fotos: Marija Kanizaj
Interview: Peter K. Wagner

„Die soziale Gestalt der Pandemie wird in Österreich vollkommen missachtet“

Martin Sprenger arbeitete vor einigen Jahren ehrenamtlich für die Marienambulanz der Caritas – und einmal sogar für die Megaphon-Fußballmannschaft. Seit er im Frühling 2020 aus der Corona-Taskforce der Bundesregierung ausgeschieden ist, erinnert er in der Öffentlichkeit immer wieder daran, welche sozialen Folgen die Corona-Maßnahmen haben. Im Interview mit Peter K. Wagner erzählt der in Graz lebende und lehrende Experte für Public Health, warum die Pandemie Arme noch ärmer macht – und erklärt, warum der mediale Schweinwerfer nicht nur auf Dashboards und Mutationen gerichtet werden sollte.

Herr Sprenger, Sie haben bereits im Mai 2020 im Megaphon geschrieben: „Jede Pandemie verstärkt die soziale Ungleichheit. Die Armen werden ärmer, die Reichen werden reicher.“ Nun haben wir Februar 2021. Was hat die Pandemie bisher angerichtet?

Meine These hat sich bestätigt. Die Pandemie verstärkt aktuell die gesundheitliche und soziale Ungleichheit. Was ich mit gesundheitlich meine: Wer schon zuvor aufgrund von chronischen oder psychischen Erkrankungen mit Einschränkung der Lebensqualität zu kämpfen hat, steht vor noch größeren Herausforderungen. Die soziale Ungleichheit beginnt bei den Kindern, die mit Einschränkungen im Bildungssystem zu kämpfen haben, das Chancen nimmt, und geht weiter über Lehrlinge, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, bis hin zu den mittel- und langfristigen wirtschaftlichen Folgen. Es wird unglaublich viel Geld ausgegeben, eingespart wird es schon bald wohl im Sozialsystem werden. Und die Leidtragenden werden jene Menschen sein, die sozial benachteiligt sind. Eigentlich wäre all das ein typisch sozialdemokratische Thema. Es wird aber von keiner Partei links der Mitte angesprochen. Die soziale Gestalt der Pandemie wird in Österreich vollkommen missachtet.

Sie sind eine der wenigen sachlichen Stimmen, die auf Auswirkungen von Corona-Maßnahmen aufmerksam macht. Und zwar aus Sicht Ihres Gebiets der Public Health, jener Wissenschaft, die Gesundheit gesamtheitlich betrachtet. Warum gibt es so wenige Menschen wie Sie, die sich für soziale Randgruppen einsetzen?

Diese Pandemie hat sich keiner gewünscht. Leider wird sie zu sehr politisiert. Mich als Gesundheitswissenschaftler stimmt es sehr nachdenklich, wenn sie zu sehr aus einer virologisch-medizinischen Perspektive betrachtet wird. Speziell bei Kindern und Jugendlichen find ich den Umgang mit der Pandemie in Österreich vollkommen unverhältnismäßig. Diese Altersgruppen sind direkt nicht bedroht, sind selbst vulnerabel und schützenswert, müssen aber solidarisch alle Einschränkungen mittragen.

Nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch für soziale Randgruppen wie etwa die Megaphon-Verkäufer_innen – wir hatten seit langem nicht so viele Verkaufende – sind die Auswirkungen der Pandemie spürbar. Hat auch Ihre Arbeit in der Marienambulanz Ihren Blick geschärft?

Natürlich spielt diese Vergangenheit auch eine Rolle, aber grundsätzlich hatte ich diese Sichtweise aufgrund meiner Ausbildung immer schon. Leider werden solche Stimmen in Österreich zu wenig gehört. Es ist schon absurd, wenn man als Corona-Verharmloser bezeichnet wird, nur weil man auf die Nebenwirkungen der Maßnahmen hinweist. Dieses bewusste Wegschauen der Politik hat die vielen Kollateralschäden noch verstärkt. Ich fürchte, dass dadurch mittel- und langfristig mehr gesunde Lebensjahre verloren gehen als durch COVID19 selbst. Um diese Frage zu klären, wäre es notwendig unabhängige Gesundheitsfolgenabschätzungen durchzuführen.

Warum spricht kaum jemand über die – von Ihnen gerne als Kollateralschäden bezeichneten – gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen einer Pandemie aus sozial- und gesundheitswissenschaftlicher Sicht?

Der Scheinwerfer wird auf die positiv getesteten Fälle auf dem Dashboard und aktuell auf die Mutationen gerichtet – nicht nur politisch, sondern auch medial. Kürzlich schlug Kathrin Sevecke von der Innsbrucker Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Alarm …        

… auch die Wiener Kinder-Psychiatrie sprach von Überfüllung.

Genau. Das sind aber nur vereinzelte Personen, die sich trauen, in die Öffentlichkeit zu gehen. Sie müssen nur bei anderen Einrichtungen in Österreich, aber auch hier in Graz nachfragen, die sich um Kinder und Jugendliche kümmern.  Alle sehen und erleben aktuell die psychosozialen Folgen. Eine Pandemie ist ein gesamtgesellschaftliches Ereignis. Bald ist es nicht mehr möglich, die psychosozialen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen auszublenden. In ein paar Monaten wird meiner Meinung nach auch die Message Control der Regierung das nicht mehr beschönigen können. Die sozialen Folgen der Pandemie werden immer offensichtlicher.  Ein Knackpunkt wird sicher, wenn die Sozialversicherungs- und Wirtschaftskammerbeiträge in Rechnung gestellt werden, die Kurzarbeit endet. Dann könnte die Zahl der Insolvenzen und damit auch die Arbeitslosigkeit deutlich steigen.       

Unlängst haben wir erfahren, dass zum Beispiel im Bereich der Delogierungen im Jahr 2020 etwa 3.000 Anfragen mehr bei der zuständigen Caritas-Steiermark-Stelle eingingen. Bei gesamt rund 9.000 Anfragen im Jahr. Das ist ein immenser Anstieg um etwa ein Drittel.

Wohnen ist ein gutes Beispiel. Denn Immobilien zeigen sehr gut, wie die Schere in Krisenzeiten auseinandergeht. Während immer mehr Menschen vor der Delogierung stehen, erlebt die Immobilienbranche einen Boom. Das ganze Kapital wandert in Betongold. Gerechtere Gesellschaften sind auch gesündere Gesellschaften. Die Pandemie hat da eine Dynamik verschärft, die schon vorher bestanden hat. Die Ungleichheiten nehmen zu, auch in Österreich. Gerechtere Gesellschaften sind aber auch jene, die repressionsfrei funktionieren. Manchmal im letzten Jahr hatte ich das Gefühl, uns droht in Österreich eine Orbanisierung. Die Politisierung der Pandemie, des Erkrankungsgeschehens und die damit verbundene bewusste Polarisierung und Diffamierung war schon erschreckend. Wenn im Kanzleramt über 40 Personen nur damit beschäftigt sind, die öffentliche Kommunikation zu färben, dann kommt so etwas dabei heraus. Diese bewusste Spaltung der Gesellschaft hat uns in der Pandemie sehr geschwächt. Eine offene gesellschaftliche Debatte war kaum möglich. Das ist auch demokratiepolitisch bedenklich.   

Laut dem britischen Medizinhistoriker Mark Honigsbaum befinden wir uns im Jahrhundert der Pandemien. Corona soll erst der Anfang sein. Grund dafür: Unsere moderne Landwirtschaft und Massenrodungen. Unterstreichen Sie das?

Definitiv. Es ist die Art und Weise, wie wir gelebt haben. Der Planet hat sich viel gefallen lassen, aber er beginnt sich langsam zu wehren. Mein Vater, der 87 Jahre alt ist, sagt: „Die Orgie ist bald vorbei. Es ist wie im alten Rom. Wer ohne Maß und Rücksicht auf die Natur lebt, sägt an dem Ast auf dem er sitzt.“ Er hat recht. Es ist eben schon zu normal für uns, auf einen Kaffee nach Paris zu fliegen, 5.000 Kilometer entfernt Urlaub zu machen, zu kaufen und wegzuwerfen, was wir nicht brauchen.

Die Initiative ZeroCovid will der sozialen Ungleichheit, die durch die Pandemie entsteht, entgegenwirken. Mit einem solidarischen Shutdown, dem Ziel null Infektionen und Reichen, die Ärmere stützen sollen. Was halten Sie von der Kampagne?

Sehr wenig. Es ist leider nicht praktikabel und kann nicht von Menschen initiiert worden sein, die einen sozial- oder gesundheitswissenschaftlichen Background haben. Unsere Gesellschaft funktioniert anders. ZeroCovid ist genauso unrealistisch wie ZeroDiabetes, ZeroAIDS, ZeroKrebs, leider auch ZeroArmut.

In Ihrem Megaphon-Kommentar im Mai 2019 haben Sie am Ende geschrieben: „Es wird Zeit, dass der Sommer kommt und der warme Wind für virusfreie Köpfe und Träume sorgt.“ Welche Botschaft können Sie uns diesmal mit auf den Weg geben?

Die Botschaft damals war eigentlich: Erholt euch über den Sommer, wenn es kälter wird, die Virensaison beginnt, geht es wieder los. Aber ich wollte den Text mit einem positiven Bild beenden. Es war klar, dass der Virus zurückkommt, und es wäre gut gewesen, den Sommer zu nutzen, um Energie zu schöpfen, anstatt mehr Angst zu schüren. Jeder Marathon braucht ruhigere Phasen. Aber gut, nun blicken wir positiv in Richtung Ende April bzw. Anfang Mai. Mit der Wärme wird Entspannung auf uns zukommen und für den Herbst bin ich dank Impfung und einer gewissen Durchseuchung der Bevölkerung recht optimistisch. Wir werden dann besser dastehen und der mediale Scheinwerfer ist hoffentlich gedimmt.

Und dann können wir uns als Gesellschaft mehr um die sozialen Folgen der Pandemie kümmern.

Das wäre schön. Leider bin ich da eher pessimistisch. Ich fürchte, dass die Coronakrise auch in der Nachbetrachtung in Österreich hauptsächlich politisiert wird. Wahrscheinlich wird das Geschichtenerzählen der Regierung einmal mehr im Vordergrund stehen. Wirkliches Lernen passiert auf diese Weise leider nicht.

 

Martin Sprenger studierte Medizin in Wien und Graz sowie Public Health in Neuseeland.
2002 begann er seine Lehrtätigkeit an der Medizinischen Universität in Graz, zeitgleich arbeitete er ehrenamtlich als Allgemeinmediziner für die Marienambulanz. Anfang März wurde er Mitglied der Coronavirus-Taskforce, aus der er sich freiwillig zurückzog. Seitdem ist er als kritischer Beobachter der Pandemiebekämpfung Stammgast in österreichischen Medien. Sprenger lebt in Graz.