Fotos: Peter Pataki
Text: Peter Wagner

Darf mensch das?

Wer in Amsterdam oder Lissabon auf Urlaub ist, geht gerne auf Street-Art-Tour. Wer seine eigene Häuserfassade besprayt sieht, spricht schnell von Verschandelung oder einem illegalen Akt. Mit dieser Ambivalenz und noch mehr Graustufen beschäftigt sich das Buch „uncurated“. „Unbefugte Interventionen im Grazer Stadtraum“ lautet der etwas sperrige Untertitel, der aber alles aussagt: Denn gerade für Menschen in sozialen Notlagen oder Künstler_innen ohne Ausdrucksformen ist die Straße der Ort fürs Gehörtwerden. Julia Reiter und Peter K. Wagner haben sich mit den Herausgeberinnen Alexandra Riewe sowie Elisabeth Fiedler, die auch Leiterin des Instituts für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark ist, getroffen.Ein Gespräch über einen großen Spielplatz mit Wildwuchs, Intervention, die zu Mainstream wird, und Kunst als Zeichen des Widerstands.

Vor einigen Wochen trudelt ein ganz schön schwerer Brocken in der Megaphon Redaktion ein. Ein Buch über unbefugte Interventionen im Grazer Stadtraum. Das interessiert uns – ist die Straße doch nicht nur der Ort, an dem unsere 300 Straßenzeitungs-Verkäufer_innen versuchen, einen Weg zum sozialen Aufstieg zu finden, sondern auch ein Ort fürs Gehörtwerden, fürs Aufschreien oder für den Widerstand. Grund genug, sich mit Alexandra Riewe und Elisabeth Fiedler im Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark zu treffen. Einen Katzensprung von der Megaphon-Redaktion entfernt, im Grazer Rondo.

Wir möchten so banal wie interessiert beginnen: Wie ist dieses Buch entstanden?
Elisabeth Fiedler: Wir wussten, dass es Dinge gibt, die in der Stadt Graz für Aufsehen gesorgt haben – etwa die Pappkartonfiguren von Christian Eisenberger, die plötzlich auftauchten. Alexandra Riewe kam dann auf mich zu und wir haben uns entschieden, etwas daraus zu machen. Interessant daran ist, dass man übrigens dann mit ganz anderen Augen durch die Stadt spaziert, wenn man sich mit so einem Thema beschäftigt. Es ist allerdings ein flüchtiges Vergnügen, weil viele Interventionen wieder verschwinden. Umso wertvoller ist diese über Jahre gewachsene Sammlung in Buchform.
Alexandra Riewe: Die Motivation wurde aus der Neugierde geboren, einen Blick von der anderen Seite zu riskieren. Wir arbeiten oft in den öffentlichen Raum hinein, aber ich wollte wissen, was mir entgegenkommt an Wildwuchs. Wer hinterlässt hier seine Spuren? Wessen Spielplatz ist das? Ein wichtiger Punkt, den ich auch mit Mitherausgeber Joachim Hainzl diskutiert habe, war: Geht es dabei um die künstlerische Wertigkeit der Interventionen? Die Antwort war klar: Nein. Wir wollten schauen, in welcher Form und von welchen Teilen der Gesellschaft der öffentliche Raum genutzt wird. Und das ist ein wirklich unübersichtliches Unterfangen.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Riewe: Wir müssen nur aus dem Rondo einen Meter auf die Straße gehen, dann sehen wir auf den Betonbänken eigenartige schwarze Spuren an den Kanten, die mir bis zur Arbeit an diesem Buch noch nichts gesagt haben. Jede_r Skater_in weiß aber: Das sind die Wachsspuren, um ordentlich über die Kanten zu sliden (Anm.: Mit dem Brett eines Skateboards über Flächen gleiten). Auch das ist ein Aspekt, wie Stadt auf körperliche Art wahrgenommen wird. Die Stadtmöblierung wird als Riesenturnsaal genutzt. Etwa auch von den Urban Runnern, die der Sportart Parcours nachgehen (Anm.: möglichst effizient von A nach B kommen, auch gerne mal über Hausdächer). Wir haben inzwischen Formen von Performances, die aus dem künstlerischen Bereich in den Mainstream gewandert sind. Ein Beispiel ist der Flashmob (Anm.: ein scheinbar spontaner Menschenauflauf auf öffentlichen Plätzen). Das ist eine Form der Freizeitgestaltung, ein internationaler Boom, der mittlerweile etwas abgeflaut ist.

Ist der Flashmob eine Form von Kunst?
Riewe: Nein, durch das Vorkommen im Buch soll er nicht zu einer Kunstform erklärt werden, das wäre ein großes Missverständnis. Es geht darum, darzustellen, auf welchen Ebenen und mit welchen Qualitäten sich Leute eintragen. Graz ist deshalb so spannend, weil es gerade noch so groß ist, dass ich hier Spuren wiederfinde und zuordnen kann. Ich finde etwa die Piratenkatze an allen möglichen Stellen. Oder aktuell das Wort „Würde“. Das mag noch kaum jemanden aufgefallen sein und das mag als lästiger sogenannter Tag wahrgenommen werden, aber auf der anderen Seite kann man sich auch Gedanken machen: Was ist damit gemeint? Ist es Sozialkritik? Geht es da um Menschenwürde? Oder geht es um den Konjunktiv?
Fiedler: Die Botschaften sagen immer etwas darüber aus, wer an diesen Ort lebt und welche Themen die Menschen gerade beschäftigen. Es ist aber etwa auch klar zu sehen, wo sich die beiden Fußballvereine der Stadt befinden und wie sie sich mit Interventionen im öffentlichen Raum duellieren.
Riewe: Wir wollten den Leuten mit dem Buch Dinge zeigen, die sie kennen, aber nie richtig beachtet haben. In jeder einzelnen Straße in Graz wird man so zur/zum Fährten- und Spurenleser_in. Diese Spuren sind ein symbolischer Akt der Befindlichkeit der Gesellschaft, die dort lebt und sich bewegt.

Warum hat das Institut für öffentlichen Raum Steiermark das Buch mitherausgegeben?
Fiedler: Mir war hier am Institut immer wichtig, dass wir nicht irgendwo Skulpturen hinstellen, sondern die Frage stellen: Was ist öffentlicher Raum und wie wird damit umgegangen? Graz ist ein guter Ort für diese Fragestellung.
Riewe: Wenn man sich den Stadtraum anschaut, gibt es kaum einen Quadratmeter, wo legal etwas gemacht werden kann. Entweder ist es eine Zufahrt der Feuerwehr oder eine Leitung läuft darunter usw. Daran habe ich gesehen, welche Freiheit sich Menschen nehmen, die ihre Projekte einfach ausführen. Interessanterweise hat es sehr viele Projekte gegeben, die auch im Buch vorkommen, die durchaus institutionell sind, sich aber in der Grauzone des Erlaubten bewegen. Wie etwa FH-Studenten, die Becher in die Bäume gehängt haben und wohl nicht vorher mit dem Grünraum Graz verhandelt haben, ob sie das dürfen.

Warum der Titel uncurated?
Riewe: Das ist ein bisschen humorvoll zu verstehen. Es ist nicht kuratiert, soll es heißen, ja, aber es schwingen auch Bedeutungen wie „ungepflegt“ mit. Es sollte insofern auch ein ironischer Kommentar sein zu den Worthülsen, die Kurator_innen für ihre Ausstellungen verwenden.
Fiedler: Das ist schön daran: Es geht nicht um die Frage, ob es Kunst ist oder nicht – es wird einfach gemacht. Natürlich ist festgelegt, was erlaubt ist. Die Leute, die wir zum Teil kennen, haben sich nicht nur im Graubereich bewegt, sondern sind auch angezeigt oder verurteilt worden. Hier eröffnet sich ein zwiespältiges Dilemma. Es gab immer wieder Zähmungsversuche der Politik, in dem Wände zur Verfügung gestellt wurden. Das ist so, wie einem Kind zu sagen, dass es in einem Quadratspielen darf und alles, was draußen ist, ist böser Raum, den du nicht betreten darfst.

Sind Hauswände nun tabu oder nicht?
Fiedler: Als Leiterin des Instituts für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark kann ich die Frage eindeutig beantworten: Ja,sie sind tabu. Street Art ist eine Form von Widerstand, die mit öffentlichen Geldern nicht legitimiert werden kann.
Riewe: Diese Kunst, die im öffentlichen Raum entsteht, wird tatsächlich sehr ambivalent wahrgenommen. Bei den Bewerbungsunterlagen von Graz als „City of Design“ waren Stencils (Anm.: Schablonengraffi ti) Teil der Einreichung. Die Stadt brüstet sich also mit ihrer Street Art und es gibt in großen Städten immer Führungen, die Urbanität dadurch zeigen. Bürgermeister Nagl hat am Ende seines letzten Wahlkampfs sogar erlaubt, dass seine Plakate übersprayt werden.
Fiedler: Wenn man an die St. Andrä-Kirche denkt: Dort gab es die Beauftragung an Gustav Troger, die Kirche zu bespielen. Danach haben sich Sprüche dazugesellt mit Interventionen wie „Refugees Welcome“, die feinsäuberlich weggesäubert wurden.
Riewe: Georg Dinstl von „Permanent Unit“ hat die Ambivalenz des Umgangs mit Street Art gut beschrieben: Er hatte einen Auftrag von „Kastner & Öhler“ die „Infected“-Kleidungsabteilung für junge Menschen mit Murals (Anm.: Wandmalereien) cool zu gestalten. Und praktisch gleichzeitig wurde ein unerlaubt angebrachtes Stencil von ihm am Kastner-Gebäude – eine Kate Moss – übertüncht. Es war seinen Auftraggeber_innen also offenbar nicht bewusst, dass sie ein Original bereits gehabt hätten.Oder auch: Kastner verkauft Skateboards – auf den Plätzen davor ist das Skaten aber strikt verboten und Kameras überwachen. Auch das Guerilla-Marketing wird mittlerweile von großen Unternehmen betrieben – wenn man an Converse-Schuhe denkt, die in ganz Graz auf die Gehsteige gesprayt wurden. Überhaupt ist das Verhältnis von Werbung im öffentlichen Raum von großer Bedeutung. Werbungen werden immer größer und niemand stößt sich daran, obwohl es in meinen Augen eine Form von optischer Verschmutzung ist.

Welche Motivation haben Menschen, Strafen zu riskieren?
Fiedler: Wir haben junge Leute kennengelernt, die sich politisch nicht beugen wollten. Zum Teil war es ihnen aber auch nicht bewusst, weil sie einfach Dinge gemacht haben, die sie für notwendig erachtet haben.
Riewe: Es gibt natürlich auch viele Sprayer_innen, die gerne „mit Befugnis“ arbeiten möchten. Letzte Woche hatte ich erst einen Rundgang mit Künstler_innen, die erzählen, wie schwer es wäre, legale Flächen zu bekommen.
Fiedler: Es ist auch interessant, wie die Community selbst darauf achtet, was schützenswert ist und nicht übermalt wird. Aber nicht nur die Community selbst hält Dinge für schützenswert. Wir alle kennen die Schlösser, die auf der Erzherzog-Johann-Brücke angebracht sind.
Riewe: Aber selbst die wurden anfangs weggezwickt. Es hat gedauert, bis sie akzeptiert wurden.

DAS BUCH „UNCURATED“ herausgegeben von Elisabeth Fiedler, Joachim Hainzl und Alexandra Riewe herausgegeben und ist z. B. beim Büchersegler am Grazer Mariahilferplatz erhältlich.

MEGAPHON MIT TON. Das vollständige Gespräch mit Elisabeth Fiedler und Joachim Hainzl gibt es auch als Podcast zum Nachhören unter www.megaphon.at/strassenmagazin/megaphon-mit-ton/