Text: Kerstin Hatzi
Fotos: Peter Pataki

Sie haben uns (k)ein Denkmal gebaut

In Graz gibt es kaum Straßen, Plätze oder Parks, die nach Frauen benannt sind. Warum eigentlich? Wieso wäre das wichtig? Und welche Frauen wurden bisher mit ihrem Namen in der Stadt verewigt? Eine Spurensuche in Graz.

„Bitte alle aussteigen“ tönt es aus den Lautsprechern im Bus. Nach 20 Minuten Fahrt hat die Linie 67 ihre Endstation erreicht: die Zanklstraße in Graz-Gösting. Ich steige aus und tappe etwas planlos umher. Ich bin selten in dieser Gegend. Eigentlich nie. An diesem Vormittag Anfang Januar habe ich die „weite“ Reise aus beruflichen Gründen auf mich genommen, zur Recherche für diesen Text.

Nur wenige Meter von der Haltestelle entfernt, finde ich dann auch, wonach ich gesucht habe: den Zanklhof, eine Wohnanlage mit 18.260 m2 Gesamtfläche und 145 Wohnungen. Wer sich nun einen grauen Betonklotz vorstellt, irrt. Prächtige Backsteinbauten ragen in den Himmel, kleine Vorgärten säumen die Hauseingänge und mitten durch das Areal plätschert der Mühlgang. Sehr hübsch, wahnsinnig idyllisch. Früher stand an dieser Stelle die Zankl‘sche Lack- und Farbenfabrik, ein gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreiches Unternehmen, das es sogar bis zum k.u.k. Hoflieferanten schaffte. An den einstigen Industriestandort erinnern heute nur noch die historischen Backsteinfassaden und der Name Zankl. Der taucht in Graz noch an anderer Stelle auf, und zwar gegenüber vom Bad zur Sonne bei der Grazer Stadtbibliothek. Dort befand sich früher das Geschäfts- und Wohnhaus der Familie Zankl. Gut sichtbar und in goldenen Lettern steht da bis heute über dem Eingang: „A. Zankl Söhne“. Und genau dieses A. ist der Grund für meinen Ausflug nach Gösting. Es steht nämlich nicht für Anton oder Arthur, sondern für Anna Zankl, Gründerin der Firma und Namensgeberin für die Zanklstraße. Hätten Sie’s gewusst? Ich (bis vor Kurzem) auch nicht.

Bis vor Kurzem habe ich mir – ehrlicherweise – auch kaum Gedanken über Straßennamen gemacht. Sie waren einfach da. Dabei sind Straßennamen weit mehr als nur Orientierungshilfen im Alltag. Sie erinnern an bedeutsame Ereignisse, dokumentieren die Entwicklung einer Stadt und sind wie im Fall der Zanklstraße symbolische Denkmäler für die namensgebenden Personen.

Erst als ich durch Zufall Ende letzten Jahres über die Geschichte hinter der Zanklstraße stolpere, wird mein Interesse für Straßennamen und ihre Bedeutung geweckt. Ich frage mich, wer in Graz gewürdigt wird und warum. Vor allem frage ich mich, wieso mir nur zwei Straßen einfallen, die nach einer Frau benannt sind: die Annenstraße und die Elisabethstraße. Es muss doch mehr geben. Ich schlage vor, dem auf den Grund zu gehen und darüber zu schreiben. In den folgenden Wochen habe ich Bücher gewälzt, Karten studiert, mit Expert:innen gesprochen und den Grazer Stadtraum abgesucht. Geplant war ein Text über die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum. Am Ende wurde es dann doch eine persönlichere Spurensuche. Aber beginnen wir am Anfang.

In Graz gibt es 1654 offiziell benannte Verkehrsflächen. 739 davon sind nach Männern benannt, nur 49 tragen den Namen einer Frau. Bezieht man Denkmäler mit ein, fällt die Bilanz noch schlechter aus. Es gibt nur drei, die einer Frau gewidmet sind. Was man dagegen häufig im öffentlichen Raum findet: Skulpturen, die Frauen bzw. Frauenkörper abbilden und Werktitel wie „Die Sitzende“, „Liegende“ oder schlicht nur „Frauenfigur“ tragen. Also die Frau ohne Namen, die Frau ohne Geschichte.

Alles eine Frage der Perspektive

Wie kam es überhaupt zu diesem massiven Ungleichgewicht? Eine erste Antwort darauf liefert mir Karin Schmidlechner. Sie ist Historikerin, Expertin für Frauen- und Geschlechtergeschichte und war maßgeblich an der Etablierung der Geschlechterforschung an der Universität Graz beteiligt. Die geringe Zahl an weiblichen Straßennamen ist laut ihr das Ergebnis eines patriarchalen Gesellschaftssystems und der damit verbundenen Geschlechtertrennung: Männer wurden als Familienversorger dem öffentlichen Bereich zugeordnet, Frauen dem privaten, zuständig für Haushalt und Kinder. „Im 19. Jahrhundert kam niemand auf die Idee, Frauen zu ehren, weil das, was Frauen aufgrund ihrer biologischen Konzeption geleistet haben, nichts Erwähnenswertes war“, erklärt die Historikerin. Ausnahmen waren weibliche Heilige oder adelige Frauen, die bereits von Geburt an in der Öffentlichkeit standen und relativ früh mit einem Straßennamen gewürdigt wurden. Der Rest blieb lange „unsichtbar“. Das liegt mitunter auch an der Geschichtsschreibung, die diese Trennung komplett mitgetragen hat: „Es gab ganz wenig Informationen über Frauen und diese Ignoranz hat sich bis weit in das 20. Jahrhundert durchgezogen. Erst in den 1960er Jahren kam – motiviert durch die 2. Frauenbewegung – die Forderung auf, Frauen aktiv in der Geschichte zu suchen.“

Auch in Graz war der Blick auf die Geschichte lange eher einseitig – bis Frauen ihn um eine weibliche Perspektive ergänzten. Eine davon war Ilse Wieser, die 1991 gemeinsam mit Brigitte Dorfer in Graz die „FrauenStadtSpaziergänge“ gründete. Ihr Ziel war es, Frauengeschichte direkt auf die Straße und so einem größeren Publikum näher zu bringen. Die geführten Touren finden bis heute im Rahmen des Bildungsprogramms des Frauenservice statt. Die Idee dazu entstand bereits Ende der 80er-Jahre, als Wieser in Graz Geschichte studierte. „Wir waren damals eine Gruppe von jungen Universitätsassistentinnen und Studentinnen und haben uns gedacht, wir erforschen jetzt unsere eigene Geschichte, unser Geschlecht, das in der Geschichte verschwiegen worden ist.“ Und sie wurden fündig: „Wir sind auf viele Themen gestoßen und es war erfreulich, zu sehen, dass es eine Kontinuität gibt. Es hat immer Frauen gegeben, die Frauen geliebt haben. Es hat immer Frauen gegeben, die sich selbstständig gemacht haben und die sich artikulieren konnten.“ Der erste feministische Rundgang fand vor über 30 Jahren statt. Sind Frauen seitdem sichtbarer? „Nein!“, antworte Wieser prompt. „Es gibt zwar immer mehr Frauen, die in Graz Institutionen leiten und sich feministisch engagieren und deren Wirken man merkt, aber der öffentliche Raum spiegelt das nicht wider.“

Die Sache mit dem öffentlichen Raum

Die Dominanz von männlichen Straßennamen ist kein Grazer Phänomen. Auch in anderen Städten zeigt sich ein ähnliches Bild. In den letzten Jahren werden aber die Stimmen immer lauter, die auch am Stadtplan eine Gleichstellung der Geschlechter fordern. Das hat auch viel damit zu tun, wo Straßenschilder für gewöhnlich zu finden sind: im öffentlichen Raum. Ein umkämpftes Terrain, immer wieder Schauplatz sozialer Konflikte. Warum?

„Es gibt Visionen vom öffentlichen Raum und dann gibt es ‚die‘ Realität. Und das passt oft nicht zusammen“, erklärt mir Danko Simić vom Institut für Geographie und Raumforschung. Was darf man wo machen, wer darf sich wo aufhalten? Der öffentliche Raum klingt nach Freiheit, ist aber stark reguliert und damit immer auch ein Abbild gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Und was hat das mit Straßenschildern zu tun? „Die Benennung von Straßen oder Parks scheint trivial zu sein, Straßennamen sind aber repräsentativ und konstruieren gewisse Realitäten“, erzählt Simić. Das heißt, Straßenschilder haben auch eine performative Kraft: „Mehr Frauennamen auf Straßen wirken der Unsichtbarmachung des Weiblichen oder Nicht-Männlichen im öffentlichen Raum entgegen und schaffen dadurch Raum für eine kritische Auseinandersetzung.“ Im besten Fall sollte der öffentliche Raum die Diversität einer Stadt widerspiegeln. Die aktuelle Diskussion um Straßenbenennungen greift daher laut Simić zu kurz: „Aus einer intersektionalen Perspektive braucht es nicht nur mehr Frauennamen, sondern auch viel mehr migrantische und queere Namen im Stadtraum.“ Bis jetzt sind es aber vor allem weiße elitäre Männer, die das Grazer Stadtbild dominieren. Damit sich das ändert, braucht es vor allem ein politisches Bekenntnis. 2003 beschloss der Grazer Gemeinderat, bei Neubenennungen von Straßen und Plätzen Frauennamen zu bevorzugen. Im Schnitt wurden in den letzten zehn Jahren zwei bis drei öffentliche Verkehrsflächen pro Jahr neu benannt. Man kann sich ausrechnen, wie lange es bei diesem Tempo dauert, bis sich der Gender-Gap schließt. Seit dieser Gemeinderatsperiode ist Vizebürgermeisterin Judith Schwentner die zuständige Stadtsenatsreferentin für die Benennung von Straßen, Plätzen und Parks. Darf man sich mit der neuen Koalition mehr Bewegung in dieser Sache erhoffen? „Für uns ist klar, dass ab sofort Frauen den Vorzug bei der Benennung bekommen“, lässt Schwentner über ihre Pressereferentin ausrichten. Das ist im Grunde nichts Neues. Aufhorchen lässt sie aber beim Thema Umbenennung von historisch bedenklichen Straßennamen zugunsten von Frauen: „Die Umbenennung einzelner schwer belasteter Straßen ist für uns vorstellbar. Vor allem dort, wo es sogar den Wunsch der Bewohner:innen gibt.“

Auf die Suche, fertig, los!

Ausgestattet mit einer Liste aller nach Frauen benannten Verkehrsflächen begebe ich mich schließlich auf die Suche. Zuerst virtuell. Ich klicke mich durch diverse Online-Kartendienste und Stadtpläne. Schnell zeigt sich, wieso mir zu Beginn nur zwei Straßen eingefallen sind. Viele der nach Frauen benannten Orte befinden sich im peripheren Nirgendwo, sind gut versteckte Privatwege, teilweise nur per Rad oder zu Fuß passierbar. Noch ein Hindernis, was die Sichtbarkeit betrifft: Bei einigen Straßen kann man nicht erkennen, dass sie eine Frau ehren, weil bei der Benennung nur der Nachname verwendet wurde.

Auf der Liste stehen auch einige prominente Namen wie Bertha von Suttner, Kaiserin Maria Theresia oder Ingeborg Bachmann. Insgesamt könnten die Biografien all dieser Frauen unterschiedlicher nicht sein. Was sie außer dem Frausein gemeinsam haben? Viele waren „die Ersten“ auf ihrem Gebiet, Pionierinnen in ehemals männerdominierten Bereichen. Weder im Stadtraum noch im Geschichtsunterricht sind mir die meisten Namen bisher begegnet, zumindest nicht bewusst. Daher konzentriert sich meine Spurensuche hier vorrangig auf jene, die zwar geehrt wurden, deren Namen aber kaum bekannt sind:

Elise Steininger (1854–1927)

Ende des 19. Jahrhunderts fuhren Frauen „Es gibt Visionen vom öffentlichen Raum und dann gibt es ‚die‘ Realität. Und das passt oft nicht zusammen.“ ihrer vorgesehenen Rolle bei Heim und Herd buchstäblich davon. Oder anders ausgedrückt: Der Radsport war ein wesentlicher Motor für die Emanzipation der (bürgerlichen) Frau. Eine wahre Pionierin auf diesem Gebiet war Elise Steininger, die Namenspatin für die Radwegunterführung bei der Keplerbrücke. Steininger erlernte erst im Alter von 37 Jahren das Radfahren, unterrichtete dann in der eigenen Fahrradschule und gründete 1893 mit anderen Frauen in Graz den Damen-Bicycle-Club, den ersten Frauenradsportverein Kontinentaleuropas.

Oktavia Aigner-Rollett (1877–1959)

Über die Jahre haben Witterung und Sprayer:innen ihre Spuren hinterlassen, eindrucksvoll ist der Ehrenring, das Denk[1]mal für Oktavia Aigner-Rollett dennoch. Eigentlich sind es zwei Denkmäler bzw. Ringhälften, die am Paulustor und bei der Grazer Vorklinik, beides Wirkungsorte der Grazerin, stehen. Aigner-Rollett schloss 1905 als zweite Frau in Graz das Medizinstudium ab und war danach als erste Ärztin am Allgemeinen Krankenhaus beim Paulustor als unbezahlte Hilfsärztin tätig. Als ihr eine bezahlte Anstellung verweigert wurde, wechselte sie ans Anna-Kinderspital, wo sie als erste Sekundarärztin Österreichs arbeitete. 1907 dann der nächste große Schritt: eine eigene Praxis. Und Sie ahnen es vielleicht, auch damit war sie die Erste in Graz.

Helene Serfecz (1886–1943)

„Sei nicht böse, dass ich im Kerker sterben muss. Ich habe für die Idee gearbeitet und armen Menschen geholfen. Das kostet mich nun den Kopf, aber mein Geist lebt weiter auf der Welt“, schrieb Helene Serfecz 1943 ihrem Enkelkind aus der Haft. Die Widerstandskämpferin wurde am 13. September im Landgericht Graz wegen Vorbereitung zum Hochverrat hingerichtet. Serfecz war ab 1941 im Umfeld der Roten Gewerkschaft aktiv. Sie sammelte Geldbeiträge für die Familien von Verfolgten und rekrutierte Mitglieder. Der Helene-Serfecz-Platz in Eggenberg liegt zwar etwas versteckt, hat aber Symbolkraft. Früher war er nach dem deutschen Nazi-Dichter Heinrich Lersch benannt. Heute erinnert er an eine Frau, die sich dem NS-Regime entgegenstellte.

Gertrude Wagner (1925–2009)

Spätestens seit der erfolgreichen Netflix-Serie „Das Damengambit“, in der ein amerikanisches Waisenmädchen in den (männlichen) Schach-Olymp aufsteigt, ist Schach wieder cool. Was die wenigsten vielleicht wissen: Die Allee im Grazer Augarten entlang des Kiosks ist einer Frau gewidmet, die sich auf der internationalen Schachbühne einen Namen gemacht hat. Erst mit 22 erlernte Gertrude Wagner das Schachspielen, schon vier Jahre später, 1951, konnte sie sich Österreichische Staatsmeisterin nennen. Geschichte schrieb sie aber als internationale Schiedsrichterin beim Match zwischen Anatoli Karpow und Viktor Kortschnoi 1981 in Meran: Als erste Frau überhaupt leitete sie ein WM-Duell der Herren.

Martha Tausk (1881–1957)

„Tausk gegen Lehár“, so oder so ähnlich könnte die Schlagzeile 2003 gelautet haben, als es um die Benennung des Nordspangen Parks in Geidorf ging. Die Grünanlage sollte nach dem Komponisten Franz Lehár benannt werden, der bereits Namenspate für eine Gasse war. Monatelang machten sich Fraueninitiativen für eine Benennung nach Martha Tausk stark. Mit Erfolg. Heute trägt der Park den Namen der ersten Frau im steirischen Landtag.

Paula Grogger (1892–1984)

Die Schriftstellerin Paula Grogger ist im Stadtraum mit einer Büste und einem Weg ziemlich präsent. Das Problem: Paula Grogger ist das, was man als historisch-kritische Persönlichkeit bezeichnen könnte. So gehörte Grogger dem 1936 gegründeten „Bund deutscher Schriftsteller Österreichs“ an, eine Art Sammelbecken deutsch-nationaler und völkischer Schriftsteller:innen, die sich für den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich einsetzten. Während der NS-Zeit zog sich die Autorin dann weitestgehend aus dem literarischen Betrieb zurück. Der Fall Paula Grogger zeigt gut, worin bis heute Uneinigkeit herrscht: Wie geht man mit problematischen Straßennamen um? Mit kritischen Zusatztafeln in Kontext setzen? Umbenennen? Der Fall zeigt aber auch, dass Frausein alleine eine Person noch nicht zur Heldin qualifiziert.

Voll mit Geschichte(n)

Am Ende meiner Spurensuche stelle ich fest: Mein Blick auf die Stadt hat sich verändert. Sie ist jetzt lebendiger. Voll mit Geschichte(n). Ich denke an die Frauen, die ich während meiner Recherche „kennengelernt“ habe. Ich denke an die Dinge, die für mich selbstverständlich sind. Radfahren, studieren, wählen. Selbstverständlich, weil es Frauen wie Elise Steininger, Oktavia Aigner-Rollett oder Martha Tausk gab.

Die Historikerin Gerda Lerner sagte einst: „Jede Frau sollte mindestens ein Jahr lang Frauengeschichte studieren. Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Geschichte hat.“ Gerda Lerner war eine sehr kluge Frau. Nur in einem muss ich ihr widersprechen. Nicht nur Frauen sollten sich mit der Geschichte von Frauen beschäftigen. Sondern alle. Warum beginnen wir nicht dort, wo wir uns täglich begegnen? Auf den Straßen von Graz.