Der Lebensretter

Diesmal: Anthony Uzuyem
Aufgezeichnet von Elisabeth Pötler
Fotos: David Ertl
Megaphon 9/2019

Ich nenne sie einfach „Oma“, weil sie genau das für mich war: ein Mensch, der mir Halt gegeben hat. Schon bei unserer ersten Begegnung konnte ich das spüren. Ich stand hier, an meinem Verkaufsplatz, vor dem Supermarkt, und fühlte mich unsicher, weil ich neu in Lassnitzhöhe war. Und dann kam Oma. Mit ihrer großen Einkaufstasche und einem freundlichen Gesicht spazierte sie auf mich zu und lächelte. „Was trinkst du lieber, Tee oder Kaffee?“, fragte sie. Einfach so. Es war ein kalter Herbst. „Ich mag Kaffee“, habe ich geantwortet und am nächsten Tag packte sie eine Thermoskanne aus ihrer Tasche aus und schenkte mir einen Becher ein. So hat alles begonnen.

Heute schmerzt es mich sehr, dass Oma nicht mehr lebt. Kurze Zeit nach ihrem Sturz im Juli ist sie mit 96 Jahren verstorben. Ich bin froh, dass ich davor zu ihrer Rettung beitragen konnte. Mit dem ganzen Rummel habe ich aber nicht gerechnet, das war unglaublich. Plötzlich berichteten die Zeitungen über mich: „Megaphon-Verkäufer rettet einer Frau das Leben!“ Es gab zwei Artikel über mich in der Kleinen Zeitung, ich war „Steirer des Tages“ und all meine Kundinnen und Kunden haben mich darauf angesprochen. Zwei Polizisten, die hier einkaufen, sind extra zu mir gekommen und haben mich gefragt, ob ich den Artikel gesehen habe. Sogar der Bürgermeister hat mich eingeladen und mir gedankt, ich habe ein Foto davon. Ein Bild von mir und dem Bürgermeister!
Es war schön zu sehen, wie die Menschen bewegt waren, aber in meinem Herzen sticht es, weil Oma nicht mehr da ist. Normalerweise kam sie jeden zweiten Tag zum Einkaufen. Ich habe ihr dann die schwere Tasche nach Hause getragen. Und ich habe ihr auch bei anderen Erledigungen geholfen: Wenn sie zu Ämtern musste, zum Arzt oder zum Friseur, hat sie mich gebeten, sie zu begleiten. Sie hat sich viele Wege nicht alleine zugetraut, also bin ich mit ihr mitgegangen, habe sie am Arm gestützt. „Mein Anthony“, hat sie immer gesagt. Wir haben viel gelacht zusammen. Ich sogar war auch zu ihrem 95. Geburtstag eingeladen, damals waren wir zu viert essen: mit ihrer Freundin und deren Mann. Oma hatte nicht viel Familie.

An einem Donnerstag im Juli bekam ich ein klammes Gefühl. Oma war drei Tage lang nicht zum Einkaufen gekommen. Am Nachmittag ging ich zu ihrer Wohnung und läutete, ganz oft, und klopfte an der Tür, aber Oma hat nicht aufgemacht. Ich fühlte die Angst in mir hochsteigen und kontaktierte ihre Freundin. Sie hat schließlich die Polizei verständigt. Ja und dann haben sie Oma gefunden. Sie ist in ihrer Wohnung hilflos am Boden gelegen, nachdem sie gestürzt war. Sie hatte drei Tage nichts getrunken und war sehr geschwächt. Im Krankenhaus habe ich sie dann besucht. Sie ist nur mehr im Bett gelegen und hat geschlafen. Als ich mich zu ihr gesetzt habe, hat sie ihre Augen nicht mehr geöffnet, sondern nur nach meinem Arm gegriffen und gemurmelt: „Anthony, Anthony…“ Bald darauf hat mich das Krankenhaus angerufen und gesagt, dass Oma verstorben ist. Es bewegt mich jetzt sehr, wenn ich davon erzähle. Was mir etwas Trost gibt ist, dass ich für Oma da war. Das hat sie gespürt.

Heute stehe ich wieder hier, an meinem Stammplatz, und versuche, den vielen Menschen, die zum Einkaufen kommen, offen und voller Freude zu begegnen. Ich habe viele Freundinnen und Freunde gefunden und nun, nach den Zeitungsberichten, kennen mich wirklich alle. Ich habe das Gefühl: Jetzt bin ich wirklich angekommen, jetzt ich gehöre dazu. Natürlich habe ich auch Sorgen. Ich hoffe, dass ich in Österreich bleiben kann. Schließlich bin ich als Asylsuchender gekommen und muss viele Unsicherheiten aushalten. Aber ich gebe mein Bestes, jeden Tag. Dazu gehört für mich, dass ich mein Herz öffne. Denn ich glaube, du musst dein inneres Wesen nach außen kehren, damit dich die anderen Leute wirklich sehen können. Nur so kann echte Beziehung entstehen. Auch das habe ich durch Oma gelernt.