Text: Katrin Löschnigg
Fotos: Peter Pataki

Ismail Osman

In Mürzsteg leben keine 140 Menschen. Der kleine Ort im Oberen Mürztal ist berühmt als Heimat eines Jagdschlosses, das seit 1947 Sommersitz des österreichischen Bundespräsidenten ist. Aber es ist auch jenes Örtchen, in dem Ismail Osman Deutsch lernte und sich integrieren konnte. Seit dem Vorjahr hat der Megaphon-Verkäufer den Aufenthaltstitel, mittlerweile lebt er in Mürzzuschlag, wo er vor einem Penny unser Straßenmagazin verkauft. Unsere Redaktionspraktikantin Katrin Löschnig hat ihn zusammen mit dem Fotografen Peter Pataki sowie dem Videomacher Richard Senger in der Obersteiermark besucht. Und einen lebensfrohen Menschen kennengelernt, der nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Wohl seiner Familie und Freund_innen arbeitet.

Als wir am Parkplatz des Penny-Supermarkts in Mürzzuschlag ankommen, steht Ismail Osman schon an seinem Arbeitsplatz und verkauft das Megaphon. Wegen der Kälte ist er dick angezogen und obwohl sein halbes Gesicht von einer Maske verdeckt ist, kann man sein freundliches Lächeln am Leuchten seiner Augen erkennen. Ismail ist 41 Jahre alt, geboren wurde er im Sudan, in einem kleinen Dorf fast 500 Kilometer von der Hauptstadt Khartum entfernt. Seinen Verkaufsstandort in Mürzzuschlag hat er seit fast sechs Jahren. Ismail winkt uns zu und begrüßt uns, als würde er uns kennen. Nur schwer ist er von seinem Arbeitsplatz wegzubewegen, bis er die Megaphon-Hefte in seine Tasche packt, kostet es einiges an Überzeugungsarbeit. Man merkt, wie viel ihm diese Arbeit bedeutet. Während wir sprechen, grüßt er immer wieder Kunden, die er von seiner täglichen Arbeit kennt. Er erzählt, dass er – wenn das Wetter es zulässt – jeden Tag in der Woche zum Supermarkt kommt, um zu arbeiten. Mehr als drei oder vier Hefte verkauft er selten am Tag. „Ich hab’ so viele Kund_innen, die immer bei mir einkaufen. Alle hier in Mürzzuschlag sind meine Freund_innen. Die Leute in der Stadt und beim Penny sind meine Familie, alle sind so nett zu mir. Sie fragen mich immer, wie es mir und meiner Familie geht. Wenn ich einen oder zwei Tage nicht hier bin, rufen sie mich an und fragen mich, ob es mir gut geht.“ Auch im Sudan arbeitete Ismail als Verkäufer und handelte mit den verschiedensten Waren. Er beschreibt die Arbeitswelt in seinem Heimatsland aber als ganz anders als bei uns: „In meinem Land gibt es ein sehr freies System. Wenn man etwas will, dann kann man es machen. Die Leute hier sind immer im Stress und alles ist streng.“ Anita Reingruber, eine Penny-Mitarbeiterin in Mürzzuschlag, stößt zu uns hinzu, sie hat wenig Zeit, trotzdem möchte sie uns über Ismail erzählen. „Er ist freundlich und überhaupt nicht aufdringlich. Er ist hilfsbereit und besonders die älteren Leute lieben ihn. Wir sind sehr zufrieden mit ihm.“
„Mein größter Wunsch ist, meine Familie wiederzusehen“
Im November 2013 kam Ismail nach Österreich. „Meine Heimat ist sehr nett und sehr gut, aber es gibt dort sehr viel Krieg. Jetzt gerade ist es ruhig, hoffentlich ist in einem Jahr alles gut, weil dann eine neue Regierung kommt.“ Als Ismail nach Österreich kam, musste er seine Familie zurücklassen, sie leben noch im Sudan. Seine Frau kann momentan nicht arbeiten, jedoch ist sie nicht alleine, sondern lebt mit den Eltern und drei Brüdern zusammen. „Ich habe eine Frau und drei Töchter. Asma ist jetzt 15 Jahre alt, Saida ist zwölf und Moral ist jetzt sieben. Ich hoffe, dass meine Familie bald nach Österreich kommen kann, aber das ist sehr schwierig. Wir können nur telefonieren. Ich bin schon sehr lange von ihnen getrennt.“ Seit seiner Ankunft in Österreich hat er seine Familie nicht mehr gesehen. Mit der Hilfe einer Kontaktperson in Mailand kann er zumindest Geld an sie schicken, anders kann er ihnen momentan nicht helfen. „Ja, Österreich ist meine zweite Heimat. Ich bin hier aber trotzdem ohne meine Familie, ohne meine Mutter und ohne meine Geschwister. Corona macht alles nur noch komplizierter. Ich warte noch drei bis fünf Monate, dann spreche ich mit meinen Betreuern, was ich für meine Familie tun kann. Wenn Corona weg ist, wird hoffentlich alles gut werden.“

„Jetzt ist das Megaphon meine Familie. Ich kann das Megaphon nicht verlieren“, sagt er. Ismail nahm bereits an zwei Deutschkursen teil, die Prüfungen für A1 und A2 konnte er bei der Caritas in Graz schon positiv belegen. „Das Megaphon hilft mir sehr beim Deutschlernen. Früher konnte ich gar nicht deutsch sprechen, ich habe nichts verstanden, was die Leute sagen. Aber jetzt spreche ich sehr gut. Ich lerne jeden Tag ein oder zwei Wörter und schreibe mir alles mit. Ich verstehe jetzt sogar Steirisch“, erzählt er stolz. Natürlich möchte er die Sprache noch besser lernen, er wartet darauf, B1 erreichen zu können, doch wegen Corona kann er momentan an keinen weiteren Prüfungen teilnehmen. „Deutsch, ich sage dir, es ist schwierig. Warum? Hochdeutsch und Dialekt sind sehr verschieden. Hocharabisch und Dialektarabisch sind gleich.“ Ismail kann insgesamt vier Sprachen. Arabisch ist seine Muttersprache, ganz gut spricht er auch Deutsch und Englisch. Englisch kann er deshalb so gut, weil der Sudan eine britische Kolonie war. Die vierte Sprache ist Französisch, doch hier spielt er seine Kenntnisse bescheiden herunter.

„Das Megaphon ist mein Schutz“

Ismail ist es wichtig, seine Dankbarkeit gegenüber dem Megaphon ausdrücken zu können. Auch wenn er beim AMS gemeldet ist, kann er sich wegen Corona nicht in Sicherheit wiegen, in nächster Zeit einen Job bekommen zu können. „Ich will jetzt einmal beim Megaphon bleiben. Durch Corona ist die Situation sehr schwierig, ich habe gar keine Zeit, über etwas Anderes nachzudenken. Ich habe mich schon für verschiedene Arbeiten beworben, aber dafür würde ich einen Führerschein brauchen – den habe ich leider noch nicht.“, spricht er über seine Zukunft. Wenn Ismail nicht für das Megaphon arbeitet, hilft er anderen Menschen, die eine ähnliche Vergangenheit haben, wie er selbst. Zum Beispiel erleichtert er Migrant_innen, die aus Syrien oder aus dem Irak kommen und noch gar kein Deutsch können, die Kommunikation bei Terminen, wie zum Beispiel dem Besuch bei einer Ärztin oder einem Arzt.

Wir beenden unseren kleinen Spaziergang in Mürzzuschlag und einigen uns darauf, dem Dorf einen Besuch abzustatten, indem er sechs Jahre gelebt hat: Mürzsteg. Mittlerweile ist es warm und sonnig geworden, auf dem Weg zum Auto begrüßt Ismail Spaziergänger_innen und wünscht ihnen einen schönen Tag. Wir sind gut gelaunt, Ismail steckt uns mit seiner Lebensfreude an. „Ich verbreite immer gute Laune und bringe andere Leute zum Lachen“, sagt er zu uns, die Corona-Zeit sei so schon traurig genug.

Mürzsteg ist ein winzig kleiner Ort, dessen Häuser allesamt entlang einer schmalen Straße liegen. Der Ort mit nur 139 Einwohnern befindet sich idyllisch zwischen Bergen und schmiegt sich direkt an die Mürz. In Mürzzuschlag hat Ismail erst seit Dezember letzten Jahres eine Wohnung. Er erinnert sich zurück an früher, wo er jeden Tag mit dem Bus von Mürzsteg nach Mürzzuschlag fahren musste: „Ich bin so froh, dass ich das nicht mehr machen muss. Mürzsteg ist ein Dorf und ist deshalb sehr ruhig, das mag ich gerne. Aber es ist einfach zu weit weg von Mürzzuschlag und meinem Arbeitsort.“ In Mürzsteg lebte Ismail in zwei verschiedenen Unterkünften. In der Pension im Haus der Greißlerei Mitzi Tant, dem einzigen Lebensmittelgeschäft in ganz Mürzsteg, um den Dobreinerhof, wo er zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen wohnte. Lange musste auf sein Visum warten, seit dem Vorjahr hat einen Aufenthaltstitel. Als wir vor dem Haus stehen, zeigt er auf einen keinen Platz davor: „Dieser Platz ist sehr gut im Frühling und im Sommer. Hier draußen haben wir Tee getrunken und sind in der Früh an Samstagen und an Sonntagen hier gesessen.“

„Im Frühling ist es viel schöner“

„Ich bin ein Sommermensch und hab es gerne warm. Desto heißer, desto besser gefällt es mir“, erzählt Ismail. Im Jahr 2013 kam er im November nach Österreich, schon einen Monat später schneite es und Ismail sah zum ersten Mal Schnee. Anfangs hatte er sehr mit diesen winterlichen Umständen zu kämpfen. Im Norden Sudans ist es extrem heiß, oft erreicht es dort bis zu 45-46 Grad. In der Mitte, im Süden und im Westen ist es nicht ganz so heiß. Trotzdem gibt es im gesamten Sudan keine Minusgrade – natürlich auch nie Schnee. „Kalt“ bedeutet in Ismail Heimatsland 18 Grad. „Jetzt ist es aber normal für mich“, sagt er und freut sich darauf, den Schnee hoffentlich in Zukunft seinen Töchtern zeigen zu können.

Auch wenn er sich mittlerweile an die kalten Temperaturen gewöhnen konnte, schwärmt Ismail vom Frühling in Mürzsteg: „Wenn der Frühling kommt, dann ist Mürzsteg sehr schön.“ Laut ihm sind nur im Frühling und im Sommer viele Leute in Mürzsteg, sonst ist es immer ganz ruhig. Besonders das Kinderhotel Appelhof lockt in den warmen Jahreszeiten viele Besucher_innen in den Ort. Ismail meint, dass wegen des Hotels immer sehr viele Kinder in Mürzsteg sind. Als wir an einem leeren Parkplatz vorbeispazieren, sagt er darüber: „Hier war immer alles mit Autos zugeparkt, da war gar kein Platz mehr.“ Er erzählt auch, dass er im Sommer immer im Fluss schwimmen war. Als ich ihn überrascht frage, ob das nicht gefährlich ist, antwortet er mir: „Ich bin aus dem Sudan! Ich bin auch im Nil geschwommen, da gibt es viele Krokodile. Ja, ich habe Angst vor den Krokodilen gehabt, aber ich verstehe, wie sie ticken.“

Als Zeichen seiner Dankbarkeit überreicht uns Ismail ein Geschenk – Süßigkeiten, genug für jeden von uns. Als wir uns auf den Heimweg machen, winkt er uns nach und steht bereits wieder auf seinem Verkaufsplatz. Ich erinnere mich an eine der letzten Fragen, die ich ihm stellte, nämlich was er an Österreich, seiner neuen Heimat, so liebt. „Die Leute sind so nett, Österreich ist ganz grün, ich liebe die Natur hier. Die Menschen haben Tiere, Kühe und Schafe, gleich wie die Menschen in meinem Land.“ Ismail weiß noch nicht genau, was ihn in Zukunft erwartet. Sicher ist für ihn eines: „Ich werde Österreich nie vergessen“.